Diabetische Zeugnisvergabe – Quartalstermin beim Diadoc

Musterschüler, Überstreber oder Versager? Jedes Quartal heißt es "Bitte zur Bewertung ins Diabetologen-Sprechzimmer eintreten." Bei diesem Antritts-Besuch bleibt auch das Tagebuch nicht geheim.

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Viermal im Jahr geht’s für uns zum Diabetologen, einmal zum Augenarzt und dann noch die Arztbesuche, die im normalen Leben eben auch anfallen. Da kommt mit den Jahren schon so einiges zusammen. Auch jede Menge blöder Sprüche, auf die man wahrlich hätte verzichten können. Nach 10-jähriger Diabeteskarriere sagte mir beispielsweise die Augenärztin, dass ich langsam, aber sicher mit Veränderungen an der Netzhaut rechnen müsse, nach 20 Jahren war sie höchst irritiert, dass der Diabetes noch keine Spuren hinterlassen hat. Für mich war das kein Wunder, denn mein HbA1c war nie schlechter als 7 %. Aber trotzdem gingen diese Aussagen nicht spurlos an mir vorbei. 20 Jahre nichts, aber was ist nach 30 Jahren?

Die Besuche beim Diadoc machen mich meist noch nachdenklicher

Es fühlt sich wie eine diabetische Zeugnisvergabe an. Die Versetzung hängt vom HbA1c-Wert ab – auch wenn man mittlerweile weiß, dass er nicht der alles aussagende Wert ist und auch durch häufige Unterzuckerungen verzerrt werden kann – und zeigt, ob man der Musterschüler, der Überstreber oder der Versager ist. Ist der Wert um die 6,5 %, bist du der absolute Musterschüler. Ist er niedriger, bist du perfektionistisch und unentspannt – also der Überstreber, der von keinem gemocht wird. Ist er höher, bist du chaotisch und undiszipliniert, also der Versager. Die Noten für Verhalten und Mitarbeit werden beim gemeinsamen Blick ins Blutzuckertagebuch vergeben. Es wird geschaut, warum der Blutzucker schwankt, was Gründe für Hypos und Hypers waren und wie man darauf reagiert hat. Verhalten und Mitarbeit eben. Das alltägliche Leben wird analysiert und bewertet. Dinge, die bei „Normalos“ einfach als das Leben leben verstanden werden – feiern, freuen, festlich essen – werden bei uns Typ-1ern als Ausrutscher oder als Diabetes-Freizeit verstanden, die keine Regel, sondern eine Ausnahme sein sollten. Für mich eine schmerzliche Erfahrung.

Ähm, hallo?! Meine Werte gehören mir!

Überhaupt finde ich den gemeinsamen Blick ins Blutzuckertagebuch meist recht anstrengend. Warum? Weil es eben ein BlutzuckerTAGEBUCH ist. Tagebücher sind etwas ganz Persönliches. Und ähm, hallo?! Meine Werte gehören mir! Klar stehen dort nur Zahlen und Notizen. Aber es ist auch ein Abbild dessen, was in meinen Leben los war – wie bedacht, diszipliniert, ausgeglichen, gestresst, erfreut… ich war. Denn leider gibt es immer eine Ursache für die Blutzuckerwerte, auch wenn man sie oftmals gar nicht beeinflussen kann.

Diabetes lässt sich nicht wegoptimieren

Andererseits ist es ungemein wichtig, die Ursachen für die Blutzuckerwerte zu kennen. Aussagen wie „Warum waren Sie hier hoch? Mal wieder was Süßes genascht?“, „Hier haben Sie wohl vergessen, einen Bolus abzugeben.“ oder „Wären Sie hier etwas geduldiger gewesen und hätten den zu hohen Wert behutsamer korrigiert, wären Sie nicht gleich wieder in die Hypo gerutscht.“ sind zwar anstrengend, aber sie bringen mich weiter. Denn ich überlege mir dann beispielsweise, warum ich eigentlich selten etwas richtig Süßes esse, denn das tut ab und an auch gut, oder dass ich vielleicht etwas gelassener werden muss, denn der Diabetes lässt sich nicht wegoptimieren. Also ist der Quartalstermin beim Diadoc keine diabetische Zeugnisvergabe und noch weniger ein Urteil über meine Person. Vielmehr ist es theoretisches Detailwissen eines Experten, das mich weiterbringen und mir manches erleichtern kann. Vor allem wenn ich es als solches annehme und mit dem Expertenwissen von uns Praktikern kombiniere. Das Wissen vom Doc und von der Diabetesberaterin gleiche ich mit meinen Erfahrungen und denen von anderen Typ-1ern ab und heraus kommen hilfreiche Erkenntnisse für den Alltag. Auch wenn das manchmal erst auf den zweiten Blick deutlich wird.

2 Kommentare zu “Diabetische Zeugnisvergabe – Quartalstermin beim Diadoc

  1. Ich war heute gerade beim Doc und mich nervt es eigentlich nur. Nein, ich ärgere mich sogar über diese Pflichtbesuche.

    Für manch einen Menschen ist es sicherlich gut und ratsam regelmäßig beim Arzt zu erscheinen und auch ich möchte irgendwie schon wissen, welchen HbA1C ich nun habe, aber das kann man mir auch per Telefon oder per E-Mail senden, dazu muss ich nicht 20 Minuten im Wartezimmer verbringen.

    Die Standardfragen des Arztes bzw. der Ärztin sind m. E. auch nicht wirklich hilfreich. Nun gut, der Arzt muss da irgendwas in die Akte schreiben, aber er kann eben auch nur das schreiben, was ich ihm sage. Die Frage nach meinem Wohlbefinden, ob die Spritzstellen in Ordnung sind oder ob ich schon manchmal ein Kribbeln in den Beinen verspüre, könnte ich auch via Fragebogen abgeben.

    Die Messung des Blutdrucks und Puls könnte auch die liebe Arzthelferin machen. Die nimmt Blut ab, dann kann die auch messen. Oder dieser Vorgang erfolgt durch ein Gerät. Meinetwegen von der Krankenkasse bezahlt und die Messwerte via Internet an die Krankenkasse oder den Arzt gesandt. Ok, hier könnte man schummeln, aber wozu sollte man das tun? Es geht doch um die eigene Gesundheit.

    Kurz zusammengefasst: Diese Zeit könnte, zumindest meine Ärztin, anders/sinnvoller nutzen. Immerhin sind das bestimmt zwei oder drei Minuten pro Patienten.

    Total spannend werden dann die Maßnahmen zur Verbesserung/Optimierung der Werte. Wenn die Werte nicht in den Zielbereich passen, bekommt man dann Fragen dazu, warum und wieso das denn so gewesen ist und was man besser hätte tun können. Grundsätzlich kommen auch Tipps dazu, dass man auch das Insulin mal splitten oder andere BE-Faktoren verwenden könnte. Und auch das ist mir doch bewusst, aber manchmal hat das entweder gar nichts damit zu tun oder aber es ließ sich nicht optimal berechnen. Und manchmal hat man auch einfach die Schnauze voll.

    Ich bin der Meinung, dass man hier auf jeden Fall bei den Ärzten etwas optimieren könnte. Nicht, dass sich die Ärzte keine Zeit nehmen sollen, aber ich finde, sie sollten sich Zeit nehmen, wenn man wirklich mal ein Problem besprechen möchte. Mir Dinge zu erzählen, die mir im Allgemeinen bekannt sind (oder ich sogar besser informiert bin, als der Arzt) ergibt keinen Sinn.

    Das hier investierte Geld der Krankenkasse hätte ich zum Beispiel viel lieber als Hardware in Form von Sensoren für das FGMS/CGMS.

    Nachtrag (falls die Frage aufkommen sollte): Und nein, eine(n) andere(n) Diabetologin(-en) gibt es leider nicht in der Nähe und ich bezweifele auch, dass mir ein Arzt innerhalb der 10 Minuten mehr hilfreiche Informationen zukommen lassen kann, als die Foren/Blogs anderer Diabetiker. Am erfolgreichsten sind hier vermutlich immer noch die 3-wöchigen Intensivschulungen (Reha). 😉

  2. Hallo Stan,
    ich verstehe, was Du meinst. Unser Gesundheitssystem könnte optimaler gestaltet sein, Gelder könnten sinnvoller eingesetzt werden, Ärzte könnten empathischer sein, Synergien könnten aktiver genutzt werden. Vielleicht hilft es etwas, wenn man diese Missstände offener kommuniziert. Zu hoffen ist es. Viele Grüße Friederike

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