Alles teilen, alles wissen, alles bewerten – leben wir längst im „Circle“?

Antje ist in den sozialen Medien aktiv, nutz Blutzucker-Apps, bloggt und postet Statusmeldungen über ihren Diabetes. Doch was passiert mit diesen Daten?

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Volunteer Support Big Data Online Global Communication Concept Romane, in denen Visionen einer künftigen gleichgeschalteten Überwachungsgesellschaft beschrieben werden, haben mich schon immer interessiert. „1984“ von George Orwell zum Beispiel oder „Schöne Neue Welt“ von Aldous Huxley, obwohl das eigentlich nur eine schulische Pflichtlektüre im Englisch-Leistungskurs war. Der aktuelle Bestseller „The Circle“ von Dave Eggers wird gern in einem Atemzug mit diesen beiden Titeln genannt.

Eine einzige Internetidentität für alle Aktivitäten im Leben

Der Roman handelt von der 24-jährigen Mae Holland, die nach ihrem Studium eine Stelle in einem Unternehmen namens „Circle“ in Kalifornien ergattert hat. Das Unternehmen bietet seinen Mitarbeitern eine Menge Vergünstigungen sowie kulturelle und Freizeitangebote – entsprechend heiß begehrt sind die Jobs beim „Circle“. Diesen „Circle“ muss man sich ein bisschen wie Facebook mit Freundschaften, Gruppen, Termineinladungen und so weiter vorstellen, nur noch allumfassender: Seine Kunden nutzen die Internetidentität des „Circle“ nicht nur für ihre Aktivitäten in den sozialen Medien, sondern auch als Personalausweis, zum Bezahlen oder für den Abschluss von Versicherungen – mit einem einzigen Kundenkonto kann einfach alles im Alltag abgewickelt und verwaltet werden. Der Preis für diesen Komfort und immer neue Dienstleistungen ist der vollständige Verlust jeglicher Anonymität im Netz, wobei man dies im „Circle“ vielmehr als einen Gewinn an Transparenz empfindet, die zu mehr Sicherheit und zu mehr Vernetzung von Menschen untereinander führt – Aktivitäts- und Like-Rankings der Mitglieder inklusive.

Jeder Follower kann sämtliche Gesundheitsdaten ansehen und auswerten

Der „Circle“ gewährt seinen Mitarbeitern Zugang zu bestmöglicher Gesundheitsversorgung, sammelt dafür über einen heruntergeschluckten Sensor allerdings jegliche Gesundheitsdaten und macht diese Daten der gesamten Community zugänglich. Was prompt dazu führt, dass irgendein findiger Follower sich einmal mit dem genetischen Risikoprofil der Protagonistin Mae beschäftigt und aus ihren Community-Posts schließt, dass sie zu häufig rotes Fleisch isst und damit ihr Krebsrisiko erhöht. Was das Netzwerk weiß, bleibt auch der Ärztin von Mae nicht verborgen. Ich weiß ja nicht, wie es euch gehen würde, aber ich für meinen Teil fände es ziemlich gruselig, wenn mein Arzt mich anriefe, weil er von einem meiner eher zufälligen Facebook-Kontakte Informationen über mein statistisches Krebsrisiko erhalten hat und mich deshalb unbedingt untersuchen und über meine Ernährungsgewohnheiten mit mir sprechen möchte. (Noch gruseliger fände ich es natürlich, wenn meine Follower über eine Minikamera, die mir wie eine Kette um den Hals baumelt, jeden meiner Schritte verfolgen und damit unter anderem auch jederzeit beobachten könnten, wann ich trotz einschlägiger Warnungen in meiner Ernährung sündige… auch das ist im Roman Realität.)

Nur Zukunftsmusik? Was weiß das Internet schon jetzt über mich?

Viele der in „The Circle“ geschilderten Auswüchse sind noch weit von unserem derzeitigen Leben entfernt. Aber manches eben auch nicht – und genau das gibt mir zu denken. Ob ich in den einschlägigen Facebook-Gruppen Probleme mit meinem Diabetesmanagement offenbare und daraufhin mehr oder minder hilfreiche Antworten anderer Diabetiker bekomme, ist mir zwar selbst überlassen. Auch ob ich bei Facebook Blutzuckerwerte, Fotos von meinem Essen und aktuelle Standorte poste (all dies mache ich gelegentlich), habe ich selbst in der Hand, niemand zwingt mich dazu. Doch was im Hintergrund und ohne meine ganz bewusste Entscheidung mit meinen Daten passiert, kann ich auch heute längst nicht mehr überblicken. Was für Schlüsse mag Facebook daraus ziehen, dass ich häufig morgens um sieben einen Blutzuckerwert von 108 mg/dl (6,0 mmol/l) zusammen mit einem Frühstück von 6 KE poste und mich am selben Abend in einer Hamburger Tanzschule aufhalte? Und was für ein daraus ermittelter Score dringt möglicherweise zu den Werbekunden von Facebook vor? Weniger oder gar nichts mehr bei Facebook zu posten, scheint auch keine Lösung zu sein: Wie ich in einem Interview mit der Algorithmus-Expertin Yvonne Hofstetter (Autorin des Buches „Sie wissen alles“) gelesen habe, sind Versicherungen in den USA bereits dazu übergegangen, das Risikoprofil von Wenig-Postern bei Facebook hochzustufen – einfach weil zu wenige statistisch auswertbare Informationen über sie verfügbar sind. Likes und Posts hingegen lassen sich hervorragend statistisch auswerten – und was ich bei Facebook like, sagt offenbar einiges über Parameter wie meinen IQ, meine sexuelle Orientierung und mein Suchtverhalten aus, wie man schon 2012 in einer Studie nachlesen konnte.

„Big Data“ zaubert Dollarzeichen in die Augen von Analysten

Natürlich ist die Versicherungsbranche hochinteressiert an all diesen Daten: an denen, die wir freiwillig preisgeben, ebenso an denen, die wir unwissentlich übermitteln. „Big Data“ ist das Zauberwort, das bei Analysten Dollarzeichen in den Augen klingeln lässt. In Deutschland hat erst kürzlich als erste deutsche Krankenversicherung die Generali-Versicherungsgruppe ihren Versicherten Rabatte angeboten, wenn sie zum Beispiel via Smartphone-App Daten über ihren Gesundheitszustand (Blutzuckerwerte, Zahl der zurückgelegten Schritte, Medikamenteneinnahme, Zyklus, Essgewohnheiten oder Schlafphasen) an die Versicherung weitergeben. Aus juristischer Sicht alles harmlos, meint die Bundesregierung in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion im Deutschen Bundestag.

Datensammler bei Versicherungen und Pharmariesen

Ich hingegen finde das durchaus bedenklich. Noch habe ich zwar die Möglichkeit, mich gegen einen solchen Rabatt-Tarif zu entscheiden, der bislang ohnehin nur von einer einzigen privaten Krankenversicherung angeboten wird. Doch auch bei den gesetzlichen Krankenkassen und den Pharmaunternehmen tummeln sich viele Datensammler. So bietet die Techniker Krankenkasse seit Kurzem einen „Diabetes-Coach“ an, bei der geschulte Callcenter-Mitarbeiter gemeinsam mit dem Versicherten Lebensstil-Ziele (Stichwort: Mehr Sport! Gesünder essen!) festlegen und mit darüber wachen, ob sie auch eingehalten werden. Und aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen scheint der Pharmariese Abbott bei Nutzern der Software des neuen Glukosemesssystems FreeStyle Libre automatisch Daten an seine zentralen Server in den USA zu übertragen, wie ein belgischer Blogger berichtet hat. Ich kann nicht glauben, dass das Teilen all dieser Daten ausschließlich meiner bestmöglichen Gesundheitsversorgung dienen soll.

Ich bin trotz der Romanlektüre weiterhin ein Facebook-Junkie

Ganz so fern scheint mir die in „Der Circle“ geschilderte Zukunft also leider nicht zu sein. Doch habe ich irgendwelche persönlichen Konsequenzen daraus gezogen? Zugegeben: Ich bin auch nach der Lektüre des Romans noch ein kleiner Facebook-Junkie, der seinen Freunden wahrscheinlich mehr aus seinem Leben mitteilt, als diese jemals wissen möchten. Ich teile meine Daten und lasse gleichzeitig zu, dass die geteilten Daten mein Verhalten beeinflussen: Hand aufs Herz, ich bin vermutlich nicht die einzige, die sich manchmal dabei ertappt, Posts so zu verfassen, dass sie möglichst viele Likes erzielen (und die dann traurig ist, wenn die erhoffte Like-Welle ausbleibt). Aktivitäts- und Like-Ranking à la „Circle“ lassen grüßen! Und wie sicherlich so manch anderem Facebook-Nutzer kommt es mir manchmal so vor, als habe ein Ereignis nur wirklich stattgefunden, wenn es auch bei Facebook dokumentiert wurde. Doch damit nicht genug: Ich sammele verschiedene Laufstrecken mit Runtastic. Ich nutze Diabetes-Apps, um meinen Blutzucker und blutzuckerrelevante Aktivitäten zu dokumentieren (und nicht etwa Papiertagebücher, die in einer alten Weinflaschenbox gesammelt werden und zu denen außer mir und schlimmstenfalls meiner Haushaltshilfe garantiert niemand Zugang hat). Datensammlung Old School Immerhin verzichte ich auf einen Diabetes-Coach in Form eines Callcenter-Mitarbeiters und auf die zwielichtige Software des FreeStyle Libre – meine Krankenkasse und mein Medizingeräte-Lieferant sollen nicht auch noch Einblick in die Details meines Diabetesmanagements erhalten und Dinge auswerten, die sich meiner Kenntnis entziehen. Mich interessiert, was andere Diabetiker über Big Data und seine Auswirkungen auf unser Leben denken!

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