Haben Diabetiker ein anderes Verhältnis zu Essen als Nicht-Diabetiker? Stefanie hat die Daten einer anonymen Online Umfrage ausgewertet - nur 17 Teilnehmer sind mit ihrem Gewicht zufrieden und 31 der befragten Diabetiker gaben an, an einer Essstörung zu leiden.
Haben Diabetiker ein anderes Verhältnis zu Essen als Nicht-Diabetiker? Im Alter von einem Jahr wurde bei mir Typ-1-Diabetes diagnostiziert. Damals galt es mehr als heute, strikte Essenszeiten und -mengen einzuhalten. Insulinpumpen waren Zukunftsfantasien. Dunkel erinnere ich mich, dass ich, wenn ich zwischen den Mahlzeiten Hunger hatte, Quark mit Süßstoff zu essen bekam. Seit jeher beschäftigt mich die Frage, ob Menschen mit Diabetes mellitus ein schwierigeres Verhältnis zu Essen haben als Nicht-Diabetiker, wenn nicht sogar gestörtes.Karge Studienlandschaft zu Diabetes & Essverhalten
Bei der Recherche zu einer Antwort auf diese Frage stieß ich auf Hilde Bruch. Sie erwähnte 1973 erstmals das gemeinsame Auftreten von Diabetes mellitus und Magersucht. Eine 19-jährige Patientin aß absichtlich nur eine Mahlzeit am Tag und hielt die Insulinmenge gering, um „überschüssige“ Kalorien über die Niere wieder zu verlieren.* Zehn Jahre später berichtete Hillard über ketoacidotische Stoffwechselentgleisungen, die bei einer bulimischen Typ-1-Diabetikerin festgestellt wurden.** Seit 1985 häufen sich die Studien über das gemeinsame Auftreten von Diabetes mellitus und Essstörungen (Magersucht, Bulimie, binge eating disorder). Herpertz spricht von einer überzufälligen Koinzidenz beim Auftreten von Anorexie und Bulimie bei Diabetes mellitus (mehr als 9%). Insulinpflichtige Frauen waren am meisten betroffen.*** Herpertz berichtet weiter, dass in den meisten Forschungsfällen der Feststellung einer Essstörung die Manifestation des Diabetes um einige Jahre vorausgeht. Die Risiken sind eine schlechte Blutzuckereinstellung und folglich die Entwicklung von irreversiblen diabetischen Spätschäden. In einer 1995 veröffentlichten Studie versuchte Herpertz nachzuweisen, dass das „gezügelte Essverhalten“, welches Typ-1-Diabetes mit sich bringt und/oder ein „problematisches Bewältigungsverhalten“ der chronischen Krankheit der Grund sein kann für eine spätere bulimische Erkrankung. In einer 2006 veröffentlichten Studie zum Thema Diabetes und Essstörung wurde lediglich herausgefunden, dass die Kombination von Diabetes und Essstörungen die Rate an diabetologischen Folgeerkrankungen erhöht. Nicht erörtert wurde jedoch der Diabetes als Ursache einer Essstörung.****Lebenslange Weight-Watchers-Mitgliedschaft und Punkte zählen: Ist das ein normales Essverhalten?
Was mich irritiert: In allen Studien wird stets von einer Minderheit der an einer Essstörung erkrankten Diabetespatienten gesprochen. Als Essstörung werden allerdings nur Magersucht, Bulimie und binge eating disorder (Fresssucht) deklariert. Doch was ist mit Menschen, die ihr tägliches Ess- und Sport-Verhalten minutiös dokumentieren? Was ist mit denjenigen, die ihr Leben lang Punkte oder Kalorien zählen, um ja nicht an Gewicht zuzunehmen? Ist das normal? Ist das keine Essstörung?* H. Bruch: Eating disorders: obesity, anorexia, and the person within. Basic Books, New York, 1973 ** J. R. Hillard, M. C. Lobo, R. P. Keeling: Bulimia and diabetes: A potentially life-threatening combination. Psychosomatics 24 (3), 292-295 (1985) *** S. Herpertz, B. von Blume, W. Senf: Eßstörungen und Diabetes mellitus. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse (1995) **** U. Bahrke, U. Bandemer-Greulich, E. Fikentscher, D. Rübler, M. Nauck, Ch. Nagel-Reuper, T. Konzag: Eating Disturbances in Diabetics: Development of a Screening Questionnaire; Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 2006
Online Umfrage: Diabetes und Essverhalten
In einer anonymen Online Umfrage habe ich versucht, mehr zu dem Thema herauszufinden: In 7 Tagen haben 98 Typ-1- und Typ-2-Diabetiker an der Umfrage teilgenommen. Ein unglaublich tolles Ergebnis – vielen Dank! Dies lässt auf ein großes Interesse am Thema Diabetes & Essverhalten schließen.Auswertung



Hallo Stefanie,
ich finde deine Umfrage sehr interessant, schon alleine, weil sie mich zum Nachdenken bringt.
Ich schicke mal voraus, dass ich selbst seit 51 Jahren Typ 1 Diabetikerin und mit meinem Gewicht nicht wirklich zufrieden bin.
Bei deiner Umfrage waren viele Teilnehmer >15 Jahre mit ihrem Diabetes beschäftigt. Ich gehe dann mal davon aus, dass ein Großteil auch >30 Jahre alt ist. Würde man nun die vielzitierte Normalbevölkerung (und davon überwiegend Frauen) befragen, dann wären sicherlich genauso viele mit ihrem Gewicht unzufrieden – das ist ganz einfach nur die Forderung der heutigen Gesellschaft nach ranken, schlanken, fitten und nie alternden Menschen – nein richtig: Frauen -, die uns (allen?) diese Wünsche einbrennt.
Der hohe Prozentsatz an essgestörten Diabetikern mit einer Erkrankungsdauer >15 Jahren überrascht mich auch nicht. Die Diätvorschriften, die uns auferlegt worden waren ließen kaum eine andere Entwicklung zu. Hier denke ich sehr zuversichtlich, dass der Umgang mit normalen Esstilen, so wie es heutzutage geschult wird, in Zukunft doch weniger essgestörte Diabetiker mit sich bringen wird.
Danke für deine interessante Arbeit,
Liebe Grüße
Margot Börner