Diabetes – ein Leben zwischen Kontrolle, Genauigkeit und Disziplin

Es ist schwer, etwas zu akzeptieren, wenn man gar keine andere Wahl hat. Genauso ging es Carsten nach seiner Diabetes-Diagnose – sein Weg war der Versuch von kompletter Kontrolle über diese Krankheit. 20 Jahre später zieht er ein Resümee.

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Mein Name ist Carsten und ich lebe seit 20 Jahren mit Diabetes. Ich habe zum Ende meiner Kindheit als junger Mensch Diabetes bekommen. Warum, das weiß ich nicht. Geschwister habe ich keine und meine Mutter und mein Vater hatten keinen Diabetes. Meine Großeltern auch nicht und in meiner Familie kam Diabetes bis dahin auch noch nicht vor. Ich habe mir oft die Frage gestellt, warum also ich plötzlich an Diabetes erkrankte.

Warum ich?

Wenn ich zurückdenke, war ich als Kind oft mit grippalen Infekten krank – so etwa alle vier bis sechs Wochen. Eine Vermutung eines Oberarztes von mir ging einmal dahin, dass die häufigen Infekte in meiner Kindheit ein Auslöser für meinen späteren Diabetes gewesen sein könnten. Bewiesen ist es aber nicht. Die Frage, warum ich Diabetes habe, konnte und kann mir bis heute keiner beantworten. So saß ich in den ersten Tagen und Wochen nach meiner Diagnose Diabetes mellitus Typ 1 auf meinem Zimmer im Krankenhaus oder zu Hause und überlegte, was sich jetzt alles für mich verändern würde. Wie wird das sein mit dem Insulinspritzen? Was darf ich essen? Werde ich meine Ausbildung abschließen und beruflich erfolgreich sein können? Wie wird es mir in den nächsten Jahren gesundheitlich gehen? Antworten auf diese Fragen bekam ich nur langsam. Andere Menschen mit Diabetes, die ich hätte fragen können, kannte ich nicht. Das, was mir das Pflegepersonal erklären konnte, half zwar für den ersten Moment, aber mit jeder Antwort, die ich bekam, kamen neue Fragen und auch Ängste hinzu. Was ist eine Unterzuckerung? Werde ich es schaffen, meinen Blutzuckerspiegel gut einzustellen? Was mache ich auf Partys mit Freunden – was darf ich trinken? Bekomme ich Folgeerkrankungen? Werde ich blind oder werde ich nach 10 Jahren ein Bein verlieren, wie mir eine damalige Ärztin attestierte?
Quelle: Carsten Halbe

„Ich hatte weder Raum noch Zeit, den Diabetes zu akzeptieren“

Mein Umfeld, d. h. meine Eltern oder meine Freunde waren hier keine Hilfe. Meine Eltern waren schon mit der Situation der veränderten Ernährung völlig überfordert, sodass ich am Ende sie mehr beruhigen musste als sie mich. Auch meine damaligen Freunde haben meine Situation ignoriert. Es kamen sporadische Nachfragen, aber es gab zu keiner Zeit Interesse an einem Gespräch mit mir, wie ich die Veränderung in meinem Leben wahrnehme und wie es für mich weitergeht. Für sie ging der Alltag mit mir weiter, obwohl sich mein Alltag komplett verändert hatte. Ich war so schnell in die Rolle des Starken gedrängt worden, obwohl ich eigentlich Menschen gebraucht hätte, die mir einen Raum gegeben hätten, in dem ich einmal alles raus- und loslassen konnte – einen Raum, in dem ich die Möglichkeit hätte, über meine Situation zu reden. Mein Leben hat sich von einem auf den anderen Tag auf den Kopf gestellt. Ich bin an einer Krankheit erkrankt, die ich, egal was ich tue, mein gesamtes Leben nicht mehr loswerden werde. Der Diabetes wird mich jetzt mein ganzes Leben lang begleiten. Mir hat es an Gelegenheiten gefehlt, meine veränderte Situation zu reflektieren. Mein Umfeld hatte keine Zeit oder Interesse oder war selbst emotional betroffen, so dass keine Person für mich eine Unterstützung war. Und ich selbst war so sehr in Gedanken, dass ich meine Wut und Trauer über die Diagnose Diabetes auch nicht allein verarbeiten konnte. Mir hat eine Person gefehlt, die mir einen Raum und Zeit gibt und mich dabei begleitet, meine neuen Lebensumstände und die Situation anzunehmen.

Die vermeintliche Kontrolle behalten

Ich habe versucht, den Diabetes, der so plötzlich, wie er zu mir kam, genauso schnell und für andere unauffällig in mein Leben zu integrieren und so normal wie möglich weiterzuleben. Das hieß für mich, dass ich viel Insulin einsetzte, um Normalwerte zu haben wie ein Nicht-Diabetiker. Denn ich war ja nicht krank. Ich wollte auch keine Anerkennung einer Schwerbehinderung und schon gar nicht war ich ein möglicher Kandidat für Folgeerkrankungen, denn mein Diabetes war ja sehr gut eingestellt. Mein HbA1c war in der Zeit zwischen 4,7 und 5,1%. Ich wollte die Krankheit kontrollieren und ihr keinen Raum geben. Ich habe meine Ernährung nach der Diagnose nicht besonders verändert und aß nicht unbedingt gesund. Das war mit Anfang zwanzig auch noch nicht meine Welt, aber ich wog mein Essen ab – grammgenau. Und ich habe wenig beim Essen ausprobiert. Was ich nicht kannte, aß ich nicht. Mein Ziel war, den Blutzucker zu kontrollieren, und so habe ich viele Störfaktoren vermieden. Wenn ich unsicher war, spritzte ich mehr Insulin, denn ich konnte ja mit Traubenzucker gegenregulieren und so den Diabetes kontrollieren. Wenn ich wider Erwarten höhere Blutzuckerwerte hatte, bekam ich Panik. Ich war enttäuscht von mir selbst, habe mich als Versager gesehen, der es nicht schafft, gut für sich zu sorgen. Andere schaffen das auch, warum nicht ich, waren die Fragen, die mir dann durch den Kopf gingen. Ich hasste mich in diesen Phasen und wollte mich bestrafen. Und ich habe so reagiert wie immer – mit Kontrolle. Ich habe mit viel Insulin versucht, die Werte möglichst schnell wieder runterzuspritzen. Beim Sport habe ich auch wenig experimentiert. Ich wusste, dass Zusatz-BEs eine gute Strategie sind, die zusätzliche Belastung beim Sport auszugleichen. Dadurch, dass dies bei mir sehr gut funktioniert hat, habe ich es nicht versucht, etwas anderes auszuprobieren, wie zum Beispiel die Insulinmenge vorher abzusenken. Ich war nicht besonders kreativ oder experimentierfreudig in meiner Therapie, obwohl es mir sehr wichtig war, all das mit Diabetes machen zu können, was ich vorher ohne Diabetes gemacht habe. Aber hier war meine Angst zu groß, etwas falsch zu machen und später unkontrollierte hohe Blutzuckerwerte zu haben. Dann hätte ich ja wieder etwas, was ich unbedingt vermeiden wollte – die Kontrolle verloren.

„Ich habe mein Leben mit Diabetes schließlich akzeptiert“

Was dann in den Jahren und mit der Zeit bei mir stattgefunden hat, war, dass sich meine Einstellung zu mir und meinem Diabetes zum Guten verändert hat. Es kam der Punkt, an dem ich in Gesprächen mit meinen Ärzten oder mit guten Freunden gelernt habe, meinen Diabetes zu akzeptieren und mit ihm zu leben. Dadurch, dass ich über gute Gespräche einen Raum gefunden habe, über meine Bedürfnisse und Ängste zu reden, habe ich gleichzeitig eine Gelassenheit gelernt und dabei meine innere Ruhe und Stärke gefunden und nicht mehr den Zwang empfunden, jeden Blutzuckerwert mir oder einem anderen erklären zu können oder müssen. Ich habe mit der Zeit meinem Diabetes einen Raum in meinem Leben gegeben.

7 Kommentare zu “Diabetes – ein Leben zwischen Kontrolle, Genauigkeit und Disziplin

  1. Hallo Carsten, ein interessanter Titel und ein sehr gelungener Artikel. Danke dafür!
    Ich kann mich in einigen Deiner Zeilen wiederfinden.
    Kontrolle, Genauigkeit und Disziplin sind für mich, durch den Diabetes, immer wieder zentrale Punkte in meinem Leben, die ich hinterfrage (oder hinterfragen muss).
    Auch “das Bein das Du in 10 Jahren verlieren solltest” laut Ärztin, kommt mir verdammt bekannt vor. Bei mir waren die Übeltäter ganz konkret Gummibärchen die mich laut Aussage vom damaligen Arzt irgendwann ein Bein verlieren lassen würden…
    Auch heute noch (33 Jahre nach der Diagnose) finde ich es manchmal recht schwer “gesunden” Menschen Verständnis für meine Lebenssituation mit Diabetes nahe zu bringen. So werde ich häufiger als mir lieb ist (auch von nahe stehenden Menschen) gefragt wenn ich mir z.B. nach schwankenden Werten mehr “Ruhe” als gewöhnlich gönne: Bist Du krank?
    Mittlerweile muss ich fast schmunzeln und antworte: ja ich habe Diabetes, selbstverständlich bin ich krank.
    Andererseits wird mir an dieser Stelle dann auch immer wieder sehr bewusst: das auch ich meinen Diabetes akzeptiert habe und ihm Raum geben kann. Liebe Grüße

  2. Liebe Carsten, in einigen Punkten hast du mir echt aus der Seelegesprochen. Vor allem als du von der Rolle des Starkengesprochen hast. Ich lebe seit 1997 mit der Diagnose Typ 1. Ich hatte damals leider auch niemanden der mich ” aufgefangen” hat. Komischerweise gingen und gehen auch heute noch alle meine Bekannten davon aus, daß ich stark und konsequent mit meinem Diabetes umgehen kann und alles im Griff habe.
    Tja, hat man eine Wahl???
    Es tut gut zu hören das es Diabetiker gibt, denen es genauso geht. Das motiviert sehr.
    Liebe und ” zuckersüße” Grüße
    Sarah

  3. Hallo Carsten,
    danke für den Artikel. Mich als Mama beruhigt es ein bißchen wenn ich lese dass es auch ohne Spätfolgen möglich ist ein tolles Leben zu führen. Unser Sohn ist 7 und seit Nov. 18 haben wir die Diagnose. Wir versuchen ihn so gut es geht zu unterstützen aber die Angst bleibt. Darum danke. Alles Liebe

    1. Hallo Martina,
      die Rolle als ein nicht direkt Betroffener und die damit verbundenen Sorgen sind andere, aber nicht weniger ernst, als die, die man hat, wenn es einen direkt selbst betrifft.
      Ich finde es aber für beide Situationen entscheidend, dass man alles aus seiner Situation heraus möglichst Richtige getan hat und tun wird, aber dabei auch nicht seine eigenen Bedürfnisse vergisst.

      VG Carsten

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