Diabulimie – die Sicht der Angehörigen (Eltern und Stiefeltern)

Noch einmal spricht Lesley-Ann mit ihren Angehörigen über die Zeit ihrer Diabulimie – dieses Mal mit ihren Eltern und Stiefeltern. Außerdem erzählt sie, wie es ihr selbst heute geht.

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Ich habe euch bereits von meiner Diabulimie-Diagnose aus meiner Sicht erzählt. Aber von dieser Krankheit war (und bin) nicht nur ich betroffen, sondern auch meine Angehörigen. In Teil 1 von „Diabulimie – die Sicht der Angehörigen“ kamen eine Freundin und mein ehemaliger Lehrer zu Wort, in Teil 2 interviewte ich Familienmitglieder. Dieses Mal geht es um meine Eltern und Stiefeltern.

Die Antworten der Familienmitglieder

In diesem Beitrag möchte ich die Antworten zu folgenden, von mir gestellten Fragen zeigen: 1. Wie war die Zeit für dich? 2. Wie hast du mich in der Zeit erlebt? 3. Wie hast du versucht zu helfen/wie hast du geholfen? 4. Welche Tipps hast du jetzt im Nachhinein für Angehörige? 5. Wie siehst du mich heute?

Meine Stiefmama

Meine Stiefmama Sandra war in der für uns alle schwierigen Zeit eine große Stütze. Sie hat mich damals bei sich und meinem Papa aufgenommen, mich gepflegt, unterstützt und mit bedingungsloser Liebe beschenkt. Daran hat sich bis heute nichts verändert, wir haben eine liebevolle, vertraute Bindung, die nichts zerbrechen kann! Wie war die Zeit für dich? Als „Zweitmama“ konnte man nur hilflos dastehen und zuschauen. Es war schwer, dich so leiden so zu sehen und zu wissen, dass man nichts tun kann. Ich habe immer daran geglaubt und gehofft, dass alles wieder gut werden würde. Dass wir alle wieder „normal“ ins Leben zurückfinden werden. Die Zeit war natürlich auch anstrengend, eine Probe für uns alle. Den Alltag, den man nun mal so hat, zu meistern und dieses großes Paket Sorgen dabei ununterbrochen bei sich zu tragen, war nicht leicht. Wie hast du mich in der Zeit erlebt? Zum Teil habe ich dich nicht wiedererkannt. Du wolltest immer etwas dagegen tun, aber hast dir dann doch selbst im Weg gestanden. Du wirktest immer so kraftlos und konntest dich schwer an Dingen erfreuen. Du wolltest immer alles so miterleben, wie du es getan hättest, wärest du gesund gewesen, aber dein Körper war so schwach, dass das nur sehr bedingt möglich war. Wie hast du versucht zu helfen/wie hast du geholfen? Ich habe versucht, durch Zuspruch zu helfen. Ich habe dir immer wieder gut zugeredet, dass wir das gemeinsam schaffen, dir gesagt, du sollst in die Zukunft blicken. Ich war für dich da und wir haben dich bei uns zu Hause aufgenommen. Wir haben dich oft massiert, wenn dir die Glieder weh getan haben, haben dich gekuschelt, wenn du geweint hast, und sind dir mit Verständnis und Liebe begegnet. Welche Tipps hast du jetzt im Nachhinein für Angehörige? Vor allem niemals aufgeben, trotz allem nach vorne blicken, für die Erkrankte/den Erkrankten immer da sein, keinen Kontaktabbruch starten, sich mit dem Thema auseinandersetzen und nicht wegschauen.
Quelle: Lesley-Ann Weitzel
Wie siehst du mich heute? Ich sehe dich heute als erwachsen gewordene Frau. Eine Frau, die mit beiden Beinen in ihrem Leben steht und die gelernt hat, selbstständig zu sein. Selbstständig durchs Leben zu gehen, auch mal ihre Meinung zu sagen und damit nicht hinter dem Berg zu halten. Du gehst deinen Weg und hast diesen so eingeschlagen, wie du es möchtest. Du wagst es, wieder zu träumen, zum Beispiel machst du jetzt dein Abitur an der Abendschule nach, was dein Traum ist. Ich finde, du bist aus der Diabulimie gestärkt rausgegangen und hast dich gut zurückgekämpft. Du bist eine so starke Frau!

Mein Papa

Mein Papa hat mich damals bei sich und meiner Stiefmama aufgenommen. Er hat mich auf eigene Verantwortung aus der geschlossenen Klinik genommen und sich um mich gekümmert, obwohl ihm alle Ärzte davon abgeraten haben. Er hat mich so oft in den Kliniken besucht und mir das Gefühl vermittelt, immer da zu sein! Wie war die Zeit für dich? Die Zeit war das Schlimmste, was einem als Vater passieren kann. Man ist hilflos und versucht immer wieder, Kraft aufzubringen, obwohl man selbst nicht mehr weiß, woher man Kraft schöpfen soll. Wie hast du mich in der Zeit erlebt? Ich habe dich als sehr leidend, hilflos, kraftlos, ängstlich und traurig erlebt. Aber trotzdem hast du immer weitergekämpft, obwohl du selbst keinen Ausweg gesehen hast. Du hast immer gekämpft und ich wusste nie, woher so ein zerbrechliches Wesen noch Kraft bekommt. Wie hast du versucht zu helfen/wie hast du geholfen? Ich habe dich aus der geschlossenen Klinik genommen, auf eigene Verantwortung. Wir haben dich bei uns zu Hause aufgenommen, obwohl alle Ärzte und das Pflegepersonal davon abgeraten haben. Du warst mehr tot als lebendig und trotzdem habe ich dich zu uns geholt und dir immer gesagt, dass wir das schaffen. Wir haben immer mit dir geredet, haben dir zugehört und dir Liebe und Verständnis geschenkt. Obwohl du keine Kraft hattest, haben wir deinen Wunsch, auf die Saisoneröffnung von Schalke zu fahren, ernst genommen und sind hingefahren. Alle paar Meter haben wir eine Pause gemacht, aber an dem Tag viel gelacht und gemerkt, wie wertvoll das Leben ist. Der Tag ist für mich wie ein zweiter Geburtstag meiner Tochter, unser gemeinsamer zweiter Geburtstag.
Quelle: Lesley-Ann Weitzel
Welche Tipps hast du jetzt im Nachhinein für Angehörige? Niemals aufgeben und immer an das Gute glauben, egal wie ausweglos es wirkt. Immer daran glauben, dass es wieder gut werden kann und auch wird. Auf die Wünsche der erkrankten Person eingehen, damit hilft man, die Person zurück ins Leben zu holen. Wie siehst du mich heute? Heute sehe ich dich als einen sehr positiven Menschen, der immer nach vorne schaut und die Leidenszeit hinter sich gelassen hat. Ich sehe eine Frau, die alles dafür tut, um allein durchs Leben zu kommen, aber auch Hilfe von Freunden und der Familie annehmen und einfordern kann. Du bist vollkommen im Leben angekommen und hast einen „super geilen Weg“ eingeschlagen, auf dem du deinen Beruf und deine Ziele immer weiter vorantreibst. Als Papa bin ich stolz auf dich und finde es mutig, dass du jetzt dein Abitur an der Abendschule zusätzlich zum Job nachholst. Ich bin so froh, dass du den „turn around“ gepackt hast!

Mein Stiefpapa

Mein Stiefpapa Georg, bei dem ich damals mit meiner Mama und meiner Stiefschwester gelebt habe, hat mich so oft in Notsituationen durch Begleiterscheinungen ins Krankenhaus gebracht und mich dort besucht. Unsere Beziehung hat unter der Krankheit gelitten, aber heute sind wir trotz allem froh, uns zu haben, und ich kann mich immer zu 110% auf ihn verlassen! Wie war die Zeit für dich? Es war eine schlimme Zeit, auch, weil jede Art der versuchten Hilfe nichts genutzt hat und auch alle logischen Argumente ins Leere liefen. Wie hast du mich in der Zeit erlebt? Als Mensch, der niemanden an sich rangelassen hat, der in seiner eigenen Welt nur seine eigene Sichtweise gesehen hat und dem die Zukunft egal war. Wie hast du versucht zu helfen/wie hast du geholfen? Ich hatte das Gefühl, dass es kaum möglich war, Hilfe zu geben. Ich konnte immer nur deine Mutter unterstützen, die an der Situation fast zerbrochen wäre. Welche Tipps hast du jetzt im Nachhinein für Angehörige? Es ist schwer möglich, jemandem zu helfen, der niemanden an sich ranlässt und der keinen Argumenten zugänglich ist. Man kann ihm nur das Gefühl vermitteln, immer für ihn da zu sein. Wie siehst du mich heute? Ich sehe eine sehr große Veränderung und Kehrtwende, man erkennt zwar manchmal Ansätze von früher, aber an eine solche Veränderung hätte kaum jemand geglaubt.

Meine Mama

Meine Mama. Sie ist meine Seelenverwandte, meine Bezugsperson und meine größte Stütze im Leben, von der ersten Sekunde meines Lebens an. Sie war immer da, hat alles mitertragen und mich nie aufgegeben. Sie lässt mich in jedem noch so schlimmen Moment spüren, dass ich hier auf der Welt willkommen bin und dass es sich gelohnt hat, zu kämpfen! Wie war die Zeit für dich? Die Zeit war für mich schrecklich, weil ich hilflos mit ansehen musste, wie du immer weniger wurdest. Diese Traurigkeit, die sich in dir breitgemacht hat, war fürchterlich mit anzusehen, weil du immer ein so lebensfroher und lustiger Mensch warst. Wie hast du mich in der Zeit erlebt? Ich habe dich sehr oft als traurig, aber auch manchmal als wütend wahrgenommen. Vor allem hatte ich das Gefühl, dass du hilflos und dieser fiesen Situation bzw. Krankheit ausgeliefert warst. Wie hast du versucht zu helfen/wie hast du geholfen? Ich habe dir das Gefühl geben wollen, dass ich immer für dich da bin und nicht aufgebe. Soweit es ging, habe ich für dich gesorgt, obwohl ich selbst manchmal das Gefühl hatte, ich kann nicht mehr. Das Gefühl habe ich dich nie spüren lassen, ich war stark für dich und für mich, stark genug für uns beide. Niemals in meinem Leben hätte ich aufgegeben!
Quelle: Lesley-Ann Weitzel
Welche Tipps hast du jetzt im Nachhinein für Angehörige? Ich denke, man sollte früh genug versuchen, seine Bedenken zu äußern. Auch sollte man immer wieder die Bereitschaft zum Gespräch signalisieren. Im Nachhinein denke ich, es könnte hilfreich sein, Tipps zu Hilfsorganisationen zu bekommen. Angehörige sollten sich nicht abweisen lassen, sondern immer wieder auf die Erkrankte/den Erkrankten zugehen. Wie siehst du mich heute? Heute sehe ich dich als eine äußerst attraktive junge Frau, die weiß, was sie will, und zielstrebig ihren Weg geht. Und dein Lachen ist das schönste, das ich je gehört habe! Ich lache so gern mit dir und wir haben immer was zu reden. Du hast wieder Lust zu leben und tust dies in vollen Zügen!

Ich

Ich habe diesen Beitrag im Rollstuhl fertiggestellt. Ja, manchmal zieht es einem den Boden unter den Füßen weg und man verletzt beide Füße so ungeschickt, dass man für vier bis sechs Wochen einen Rollstuhl zur Hilfe nehmen muss. Aber wenn ihr ganz genau hinseht, seht ihr doch sicher dieses Lächeln in meinem Gesicht, oder? Und das ist alles, was zählt! Die Gespräche und vor allem natürlich die Antworten meiner „Interviewpartner“ haben mich traurig und nachdenklich gestimmt. Das ist normal, die Zeit war ja auch alles andere als fröhlich und schön. Aber was letztendlich zählt, ist, dass nicht ich, sondern wir den Kampf gewonnen haben, immer noch zusammenhalten und uns in schwierigen Situationen aufeinander verlassen können.
Quelle: Lesley-Ann Weitzel
You may see me struggle, but you‘ll never see me quit.“ – unbekannt

Ein Kommentar zu “Diabulimie – die Sicht der Angehörigen (Eltern und Stiefeltern)

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