Holpriger Start: Kampagne für die #DiaChancen kleiner R1sikokinder

„Sche1sstyp“ heißt es auf dem Plakat der Initiative „A World Without 1“ zum Typ-1-Diabetes. Das soll provozieren und neugierig machen. Vielen Typ-1-Diabetikern geht diese Wortwahl allerdings gehörig gegen den Strich. Ein möglicher Grund für die Aufregung: Unser Diabetes ist nicht immer nur Scheiße. Aus eigener Erfahrung weiß Antje, dass der Diabetes einem manchmal auch tolle neue Chancen eröffnet, die man nicht mehr missen möchte.

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Seit ein paar Tagen schlägt nun die Helmholtz-Initiative „A World Without 1“ mit ihrer neuen Kampagne zur Aufklärung über Typ-1-Diabetes große Wellen in der Community. Wer es noch nicht mitbekommen hat: Mit der Kampagne soll die Bevölkerung darauf aufmerksam gemacht werden, dass über 350.000 Menschen von Typ-1-Diabetes betroffen sind, was den Typ 1 vom Typ 2 unterscheidet, wie man Diabetes frühzeitig erkennen und wie man ihn bei genetisch vorbelasteten Risikokindern womöglich sogar verhindern kann. Über die Idee hinter der Kampagne muss man wohl kaum diskutieren: Sie ist super und in jedem Fall unterstützenswert. Doch die Umsetzung und Motivwahl wird diesen hehren Zielen möglicherweise nicht gerecht. So prangt zum Kampagnenstart seit dem 22. Januar „Sche1sstyp“ in großen Lettern auf 1.500 Plakaten in München, Berlin, Hannover und Dresden sowie auf über 560 Infoscreens in ganz Deutschland. Nur dieses eine Wort, darunter ein wenig erklärender Text mit Hinweis auf die Website der Kampagne.

 

Quelle: Helmholtz Zentrum

Quelle: Helmholtz Zentrum

Keine Lust auf Sprüche wie „Na, du Sche1sstyp?“

Der Slogan ist als provokantes Wortspiel gedacht: Der Typ-1-Diabetes – ein Sche1sstyp! Mit der „1“ statt des Buchstaben „i“ wird an die Früherkennungsprogramme „Fr1da“ , „Freder1k“ und „Fr1dolin“ angeknüpft. Das Wortspiel stößt allerdings vielen Menschen mit Typ-1-Diabetes sauer auf. „Ich bin kein Sche1sstyp“, sagen sie – nicht der Diabetes werde hier als Scheisstyp wahrgenommen, sondern der Mensch selbst – manch einer ist sogar im Büro schon als „Na, du Sche1sstyp“ angesprochen worden. Wer ein dickes Fell und ein gutes Verhältnis zu seinen Kollegen hat, nimmt das vielleicht mit Humor. Doch was ist mit Kindern mit Diabetes, die in der Schule manchmal ohnehin einen schweren Stand haben und gelegentlich gehänselt werden? Wie geht es Jugendlichen, die sich nun beim ersten Date mit ihrer neuen Flamme vielleicht den Spruch anhören müssen: „Ach, du hast diese Sche1sskrankheit?“ Als sei es nicht ohnehin schon schwer genug, offen mit seiner Erkrankung umzugehen, das richtige Maß zwischen notwendiger Aufklärung und Normalität zu finden. Ebenso wie viele andere auch finde ich, dass man all diesen Menschen mit den „Sche1sstyp“-Plakaten einen Bärendienst erweist. Zum Glück haben die Macher der Kampagne, A World Without 1, das auch schnell eingesehen und dafür um Entschuldigung gebeten, Bastian hat hier in der Lounge berichtet.

Typ-1-Diabetes ist eine ernste Erkrankung – aber sie definiert mich nicht

Doch die Plakate sind nun erst einmal in der Welt, und auch mir gefallen sie nicht. Weder bin ich selbst ein Sche1sstyp – ich bin ein netter und liebenswerter Mensch, meine Krankheit definiert mich nicht. Noch möchte ich, dass mir künftig vermehrt Leute begegnen, die mir mitleidig über den Kopf streicheln, weil ich so eine Sche1sskrankheit habe. Ich möchte, dass Menschen wissen, dass Typ-1-Diabetes eine ernste Erkrankung ist, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte und die mich im Alltag oft einiges an Kraft kostet. Ich möchte aber auch, dass Menschen wissen, dass man auch mit meiner Erkrankung ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft ist. Dass man arbeiten, reisen, eine Familie gründen, sportlich aktiv sein und wilde Partys feiern kann und eben nicht den ganzen Tag Trübsal blasen muss.

Warum wollen manche ihren Diabetes gegen einen derben Fluch verteidigen?

Interessanterweise gab es in der Typ-1-Community aber auch Reaktionen wie „Auch mein Diabetes ist kein Sche1sstyp, er gehört zu mir!“ Diese Haltung ist auf den ersten Blick vielleicht weniger leicht nachzuvollziehen. Ich habe nun ein paar Tage darüber nachgedacht und meine Erkenntnisse aus ca. 40 Semestern privater Küchenpsychologie durchforstet. Warum haben manche von uns den Wunsch, unseren Diabetes gegen einen derben Fluch zu verteidigen? Denn eigentlich ist der Diabetes doch eben genau das: eine Scheißkrankheit!

Der Diabetes hat das Leben auch um ein paar positive Facetten bereichert

Allerdings hat genau diese Scheißkrankheit für viele von uns eben auch dazu geführt, dass unser Leben ein paar positive Facetten hinzugewonnen hat. Wer ebenfalls in der Community aktiv ist, weiß, wovon ich spreche: Wir haben alle durch unseren Diabetes unglaublich viele tolle Menschen kennen gelernt, die uns ohne die Krankheit nie begegnet wären. Manche von uns haben aufgrund unserer Erkrankung beruflich neue Wege eingeschlagen, mit denen sie sehr glücklich sind. Andere haben erst mit dem Diabetes begonnen, sich intensiv mit ihrem Körper und seinen Bedürfnissen auseinanderzusetzen: Sie ernähren sich gesünder, treiben mehr Sport und achten stärker auf sich selbst als vor ihrer Diagnose.

Ich habe den Diabetes sozusagen zum Beruf gemacht

Ich selbst bin ein Musterbeispiel für genau solche schönen neuen Facetten, die mein Leben durch den Diabetes gewonnen hat – „DiaChancen“, um beim aktuellen Monatsthema der Blood Sugar Lounge zu bleiben. Ich habe als freiberufliche Medizinjournalistin zwar auch schon vor meiner Diagnose im Jahr 2010 gelegentlich über Themen rund um den Diabetes geschrieben. Doch seit ich selbst betroffen bin, schreibe ich deutlich häufiger als früher über Diabetes-Themen. Bei der Medical Tribune, einer Wochenzeitung für Hausärzte, der ich als freie Mitarbeiterin Artikel liefere, kriegte die Redaktion rasch spitz, dass ich Typ-1-Diabetes habe und mich besonders für Diabetes interessiere.

Als der Medical Tribune Verlag im Frühjahr 2016 den Zuschlag erhielt, für die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) die monatlich erscheinende „Diabetes Zeitung“ zu produzieren, war ich ebenfalls von Anfang mit im Boot. Doch ich schreibe auch für ein breites Publikum: In der Zeitschrift „Focus Diabetes“ kann man regelmäßig Reportagen und Features von mir lesen, ebenso hier in der Blood Sugar Lounge oder auf meinem Blog „Süß, happy und fit“. Auch das eine oder andere Pharmaunternehmen bucht regelmäßig PR- oder Newsletter-Texte bei mir. Und erst im vergangenen Jahr habe ich mein erstes Buch geschrieben – das Mutmach-Buch „In guten wie in schlechten Werten“ für Menschen mit Diabetes und ihre Angehörigen. All das macht mir großen Spaß.

Quelle: Antje Thiel

Vor der Diagnose: Bewegungsmuffel – danach: Triathletin

Ohne meinen Diabetes wäre ich darüber hinaus im Traum nicht auf die Idee gekommen, mich einmal für einen Triathlon oder Halbmarathon anzumelden. Ich habe mich vor meiner Diagnose eigentlich nie als besonders sportlich empfunden und war nur deshalb im Fitnessstudio angemeldet, weil man als Büromensch ja für ein wenig Ausgleich zum vielen Sitzen am Schreibtisch sorgen sollte.

Erst nach meiner Diabetesdiagnose entwickelte ich ein wenig sportlichen Ehrgeiz. Das lag in erster Linie daran, dass Sport mir das Vertrauen in meinen Körper zurückgab, das durch die Diagnose doch einen ordentlichen Knacks bekommen hatte: Wenn ich Sport treibe, Wettkämpfe bestreite, meine Beine routiniert traben, dann tritt diese Enttäuschung in den Hintergrund. Warum sollte ich auch enttäuscht sein? Meine Muskeln sind stark, mein Herz pumpt Blut, meine Lungen atmen Sauerstoff, meine Arme schwingen im Takt, meine Füße stoßen sich kräftig ab, mein Körper funktioniert. Er bewältigt Dinge, von denen ich damals – als Bewegungsmuffel ohne Diabetes – nie geträumt hätte. Und das ist ein unheimlich tolles Gefühl. Vor allem für einen eigentlich unsportlichen Menschen wie mich.

Mittlerweile gehöre ich sogar zu den Leuten, die im Herbst von echten Sportskanonen gefragt werden: „Und, wie war deine Saison dieses Jahr?“ Ja, ich habe eine Saison, ich engagiere mich in der IDAA, ich habe sportliche Ziele, ich erlebe sportliche Erfolge! All dies sind Dinge, die ich ohne meinen Diabetes vermutlich nie entdeckt hätte. Natürlich würde ich meinem Diabetes keine Träne hinterherweinen, sollte er sich auf einmal aus dem Staub machen. Aber die vielen DiaChancen, die sich für mich durch ihn ergeben haben, möchte ich auch nicht missen.

Quelle: Finisherpix

Quelle: Antje Thiel

Früherkennung und Prävention – das wären echte D1aChancen!

Ich vermute, dass es ähnliche Dinge sind, die den Leuten im Kopf herumschwirren, wenn sie sagen: „Stopp, mein Diabetes ist aber gar kein Sche1sstyp!“ So ein plakativer Begriff wird dem komplexen Thema einfach nicht gerecht. Man sollte nicht auf Kosten der Betroffenen um öffentliche Aufmerksamkeit buhlen. Denn eigentlich geht es in der Kampagne ohnehin viel mehr um die vielen kleinen Menschen, die vor dem Schicksal eines Typ-1-Diabetes bewahrt werden sollen. Ich wünsche jedem kleinen Kind, das Risikogene für Typ-1-Diabetes in sich trägt, dass sein Risiko früh erkannt wird und dass der eigentliche Ausbruch der Erkrankung z.B. durch die frühzeitige Gabe von Insulin hinausgezögert oder vielleicht sogar ganz verhindert werden kann. Denn das wäre eine DiaChance (von mir aus können wir auch im Stil der Kampagne D1aChance sagen…), die allen anderen DiaChancen haushoch überlegen wäre.

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