Wie das Leben, so der Blutzucker

Auge einer Frau mit Uhr im Vordergrund

Sind Vivis Blutzuckerkurven größtenteils selbstgemacht oder bleibt ihr im „Hamsterrad des Lebens“ keine große Wahl, wenn sie als zweifache Mutter mit Diabetes erfolgreich sein möchte?

Weiterlesen...

Neben anderen Analysefunktionen an meinem Körper [1] liebe ich meine Smartwatch, weil sie mich sanft per Puls-Vibration jeden Morgen um 5 Uhr weckt – so leise, dass wirklich kein Mäuschen davon Wind bekommt:

20 Minuten gönne ich mir und meiner Körperpflege bei einem heiß gebrühten Kaffee – das ist alles, was ich an „me-time“ habe. Parallel schmeiße ich oft schon eine Ladung Wäsche in die Trommel – Effizienz ist in meinem Leben schließlich ein „Überlebenstrick“.

Danach starten die Vorbereitungen des Tages und ich lege meine Schürze an, um an meiner sauberen Fassade keine Spuren meines „realitätsbewältigenden Ichs“ zu hinterlassen. Vorsichtshalber ziehe ich meine Insulinpumpe aus und lege sie schon mal, bis ich das Haus verlasse, in meine Arbeitstasche. Denn meine nachfolgenden Aufgaben sind sportlich, zeitlich präzise und führen leicht zu Unterzuckerungen:

Die Alltagsbelastung

Spülmaschine aus- und einräumen, Herumliegendes wegräumen, Frühstück machen, Brotzeiten und Getränkeflaschen für Kindergarten und Krippe herrichten. Dann das Abendessen vorbereiten, weil ich bis 18 Uhr arbeiten muss und mein Mann oder eine Babysitterin die Kinder nach dem Kindergarten bis 18.30 Uhr betreuen. In dieser Zeit werden die Kinder unbändigen Hunger haben. Indem ich alles vorbereite, wird mein „arbeitendes, zielstrebiges Ich“ zu einer kleineren Belastung für die Familie und die Wahrscheinlichkeit ist geringer, dass ich Steine in den Weg gelegt bekomme, weil ich als Mutter trotzdem meine Ziele verfolge.

Der Wecker zeigt kurz vor 5 Uhr
Quelle: Pixabay

Gegen 6.30 Uhr wecke ich die Kinder, ich ziehe sie – manchmal unter großen Widerständen und mit viel Diskussionen – an. Gegen 7 Uhr serviere ich das Frühstück. Während die Kinder essen und „klabaukern“, hole ich die Wäsche raus und lege sie in den Trockner. Ich fege die Böden und mit einem nassen Lappen mache ich größere Flecken am Boden schnell weg, denn zum Wischen bleibt erstmal keine Zeit. Spätestens 7.30 Uhr muss ich anfangen, die Kinder anzuziehen. Im Winter ist das besonders aufwendig, weil Thermohosen, Schal und Mützen gerne immer wieder abgezogen werden, bis mir fast der Kragen platzt. Überlebenstrick Nr. 2: ATMEN! Tief ein- und ausatmen!

Auf zur Arbeit

Ich habe kein Auto. Also nehme ich bei Wind und Wetter entweder das Fahrrad mit Anhänger oder die U-Bahn. Die Kinder sind morgens nur mit Spielen wie „Wettrennen“ oder Ähnlichem zum Fortbewegen zu animieren. Der Weg zur 800m entfernten U-Bahn dauert durchschnittlich 15 Minuten. Ich plane immer noch eine U-Bahn als Puffer ein (Trick Nr. 3), um später um 9 Uhr pünktlich auf der Arbeit zu erscheinen. Ich bin schließlich eine erfolgreiche „working (disabled) Mom“, die in 80% Arbeitszeit über 100% versprochen hat zu leisten und genau 50% zu den Lebensunterhaltskosten beiträgt, um aus ihrer Diabetes-Mami-Sackgasse herauszukriechen. Denn ich habe – gemessen am Erfolgsbarometer – drei gesellschaftliche Behinderungen: Ich bin Diabetikerin Typ 1 (60GdB), Mutter zweier Kleinkinder und habe deshalb eine eingeschränkte Flexibilität.

Wir schreiben das Jahr 2020

Seit ich Kinder bekommen habe, bin ich vielen verzweifelten Müttern begegnet. Es scheint, als gäbe es immer noch unumstößlich zwei Wahrheiten: 1. Wir müssen alle einmal sterben und 2. mit der Geburt des ersten Kindes ist es vorbei mit der Gleichberechtigung.

So sehr ich meine Kinder liebe, möchte ich dennoch nicht einsehen, dass ich Leben geschenkt habe, um mein eigenes zu opfern.

Mein Diabetes ist eine ehrliche Stimme, die mir meinen Lebenswandel unverblümt verdeutlicht: Mein HbA1c war vor den Kindern um ca. 1% besser (damals ~6%, heute ~7%) und die Schwankungen – vor allem der Unterzucker – geringer, doch das wundert mich nicht: Ich bin 5-8kg dicker als damals, habe seit knapp 5 Jahren keine Nacht mehr durchgeschlafen, kein Wochenende mehr für mich gehabt, keinen „freien“ Urlaub, konnte keine Krankheit auskurieren und habe insgesamt viel weniger Zeit (und Muße) für Sport. Mein Sport ist meine Hausarbeit, der tägliche Arbeitsweg mit dem Fahrrad und 20 Minuten EMS-Training, das ich irgendwo noch „reinquetsche“.

Auge einer Frau mit Uhr im Vordergrund
Quelle: Pixabay

Seit den Kindern peitsche ich mich durchs Leben, um meine Ziele von damals und mich selbst nicht zu verlieren. Doch was ich dabei oft verliere, ist die Kontrolle über meine Zuckerwerte. Wie oft mein CGM piepst, vermag ich nicht zu sagen, aber über den Tag verteilt spritze und esse ich mehr, um meine Zuckerwerte zu korrigieren, als ich es zu echten Mahlzeiten tue.

Mein Hamsterrad erlaubt mir keine Schwächen. Meine Kinder brauchen mich und ich will so gut es geht für sie da sein. Als Kompensation zu meinen langen Arbeitstagen lese, spiele, male ich jeden Abend mit den Kindern und bringe sie ins Bett. An den Wochenenden versuche ich für besondere Erlebnisse und ganz viel „quality time“ zu sorgen.

„Hypo“ not welcome

Doch Unterzuckerungen sind erbarmungslos. In einer Nacht, in der es endlich ruhig zu sein scheint – kein Kind weint, kein Kind will gestillt, gewechselt werden oder macht ins Bett –, piepst das CGM mich wach und zwingt mich, in kleinen Überlebenskämpfen mit schlappen Knien, zittrigen Händen und schwummriger Sicht in Sekundenschnelle Apfelsaft zu trinken. Ich schleiche, will niemanden stören und lege mich erschöpft nieder – immer wieder, immer wieder.

Jetzt könnte ich abschließen, indem ich „einsehe“, dass mein Hamsterrad hausgemacht ist und entsprechend auch meine Zuckerkurven. Mag zu einem gewissen Grad auch stimmen. Dennoch sehe ich in unserer Gesellschaft ein ernsthaftes Problem im ständigen Runterspielen von alltäglichen, maßgeblich weiblichen Herausforderungen.

Lasst es mich mit Sarkasmus versuchen:

Als Frau genießt man eine Chancengleichheit zu Männern! Eine schlechtere Bezahlung ist nur abhängig von dem eigenen Verhandlungspotential. Mutter sein ist das größte Glück. Es liegt in der Natur der Frauen, dass wir am liebsten und häufigsten nach unserer Elternzeit in Teilzeit wechseln. Weniger Geld, weniger Rente, weniger berufliche Perspektiven und Anerkennung verstehen sich mit Teilzeit von selbst. Und es ist doch verständlich, dass Mütter, die zwar hervorragend performen, selten bis nie Beförderungspotential genießen, denn das Risiko, dass sie Kinder nachlegen oder die bereits existierenden Exemplare erkranken, unterstreicht – trotz aller Bemühungen – die zwanghafte Inflexibilität und Unzuverlässigkeit von Müttern.

Ob ich also meine Unterzuckerung aus meinem Hamsterrad beziehe oder aufgrund psychischer Belastung durch andauernde Unzufriedenheit, ist am Ende wohl die echte Wahl in meinem Leben.

[1] Ich trage natürlich auch ein CGM (Continuous Glucose Monitoring) Device


Habt ihr schon mal von der 80:20-Regel gehört? Sara erklärt, was dahinter steckt: Das Paretoprinzip und mein Diabetes

2 Kommentare zu “Wie das Leben, so der Blutzucker

  1. Liebe Vivi,

    Danke für deinen Artikel. Du bist eine tolle und eine starke Frau, und es ist Wahnsinn, was du trotz Diabetes alles wuppst!!

    Ich selbst bin auch Typ 1 Diabetikerin, habe 2 Kinder (heute 8 und 12 Jahre alt) und bin in einer Management-Position mit 18 Mitarbeitern und vielen Dienstreisen in’s Ausland. Mein Mann war bis im letzten Jahr in der Gastronomiebranche selbstständig und war so gut wie nie zu Hause. Ich habe also vor und nach der Arbeit bei uns alles gewuppt und auch am Wochenende nahezu komplett den Haushalt geführt und die Kinder versorgt. Mein Diabetes, ich selbst – dafür war im Alltag keine Zeit, das lief irgendwie mit… Bis ich Anfang letzten Jahres bei meiner Diabetologin sass und einen Heulkrampf bekam, als sie mich nach den Gründen für meine Blutzuckerachterbahnen fragte. Meine Erkenntnis daraus war:
    – Ein Diabetes braucht einen festen und zuverlässigen Platz im Leben, in dem man sich um ihn kümmert, er ist praktisch wie ein permanent anwesendes Kleinkind oder Haustier, das umsorgt sein möchte.
    – Wir selbst als arbeitende Frau und Mutter brauchen einen festen und zuverlässigen Platz in unserem Leben, in dem wir uns um uns selbst kümmern, um uns zu regenieren und genügend Energie für alles zu haben.

    Tja, mein Mann und ich haben dann einiges geändert. Die Kneipe ist heute verpachtet und mein Mann kümmert sich unter der Woche Vollzeit um die Kinder und den Haushalt. Am Wochenende teilen wir uns die Hausarbeit und Kinderbetreuung. Ich mache wieder regelmässig Sport und Yoga – unter der Woche in der Mittagspause mit fest geblockten Terminen in meinem Kalender, damit sie keiner anderweitig bucht. Ich habe meinen Arbeitskollegen, meinem Chef und meinen Mitarbeiten offen gesagt, dass ich diese Zeiten für mich brauche. Mir geht es jetzt deutlich besser, und meinem Diabetes auch. Auch meiner Familie geht es jetzt deutlich besser, denn wir sind alle entspannter geworden.

    Ich wünsche dir von Herzen, dass auch du es schaffst, dir ein wenig mehr Freiraum zu schaffen, für dich selbst und für deinen Diabetes!

    Ein Tipp aus meiner Erfahrung: wenn man Kinder hat und berufstätig ist, ist rund um die Uhr immer etwas zu tun. Freiraum kann man sich nur erobern, in dem man ihn sich bewusst nimmt! Hypo, Insulin spritzen oder Katheder wechseln? – Hat jetzt gerade Vorrang, auch wenn vielleicht gerade ein Kind weint. Solange keine körperliche Gefahr wird, wird ihm kein dauerhafter Schaden entstehen.
    Zu spät in der Krippe, im Kindergarten, auf der Arbeit: hey, ich bin eine working mum mit Diabetes! Ihr solltet Hochachtung vor mir haben, dass ich das alles so gut hinkriege, wie ich es hinkriege!

    Viel Glück meine mutige Heldin!

    Liebe Grüsse – Daniela

Schreibe einen Kommentar