Diabetes braucht Zeit und Energie (oder „warum läuft es denn schon wieder nicht so, wie ich will?“)

Gut in den Tag zu starten, ist für viele essenziell – auch für Mirjam ist das besonders wichtig. Dazu gehören für sie auch Glukosewerte im Zielbereich und eine ruhige Nacht. Aber der Diabetes hat da manchmal andere Pläne.

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Morgenstund’ hat Insulin und Kohlenhydrate im Mund

Es ist sechs Uhr früh, ich fühle mich ausgeschlafen und energiegeladen, schaue auf meine Gewebezuckerkurve und freue mich – die ganze Nacht stabil um die 80 mg/dl (4,4 mmol/l), keine nächtlichen Schwankungen, kein Anstieg in den Morgenstunden. Das fühlt sich an wie ein Lottogewinn! Jetzt will ich aufstehen und loslegen. In den letzten zwei Tagen ist mein Zucker durch das Aufsteh-Adrenalin immer ganz schön angestiegen, also gebe ich mir direkt einen kleinen Bolus, in der Erwartung, dass dann die Kurve einigermaßen stabil bleibt. Auf in den Tag. Eine Stunde später werden mir die Knie weich, mir rutscht das Buch aus den Fingern, das ich gerade aufschlagen wollte. Zeit fürs Frühstück? Gleichzeitig piept mein Sensor laut – zu tief. Ich bin frustriert. Gestern hätte das mit der einen Einheit genau gepasst, heute war sie offensichtlich zu viel. Es dauert eine Stunde, bis ich zwischen Frühstück, „Hypo“-Frust und der Zittrigkeit wieder so weit bin, dass ich tatsächlich in den Tag starten kann. Das frustriert mich noch mehr, denn es ist plötzlich nicht mehr nur „Ich war gerade zu tief und musste mich darum kümmern“, sondern „Ich bin nicht gut genug im Diabetes-Management“ und dann „Ich ärgere mich darüber, dass ich mich darüber ärgere, dass mein Körper nicht macht, was ich will“.

Quelle: Pixabay

Abstand gewinnen, durchatmen, Erwartungen anpassen

Wie da wieder rauskommen? Tief durchatmen und mich daran erinnern, dass unser Körper ein verdammt kompliziertes System ist und dass es immer Faktoren geben wird, die ich einfach nicht mit berechnen kann. Erwartungen anpassen – welchen Anspruch habe ich an mich und ist der sinnvoll und erreichbar? Aber ganz ehrlich, da vom Denken zum Fühlen zu kommen, ist ähnlich schwierig, wie den Insulinbedarf exakt vorauszusagen. Denn am nächsten Morgen wache ich leicht unterzuckert auf, denke mir „okay, gestern ist der Zucker ziemlich gesunken“, esse ein Stück Traubenzucker, und schwups ist der Wert nach 30 Minuten bei 180 mg/dl (10,0 mmol/l).

Erwartungen ans Selbstmanagement

Wenn sich so etwas häufiger wiederholt, dann beginne ich, mit einem – oder eigentlich zwei – weiteren Ansprüchen an mich selbst zu kämpfen: der Erwartung, dass ich mich gut um mich kümmere, einerseits beim Essen und andererseits beim Diabetesmanagement insgesamt, und dass das meist einfach nebenher läuft, ohne dass mir das sonderlich anstrengend erscheint.

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Kinder, Betrunkene und Unterzuckerte sagen immer die Wahrheit

Ich bin also wieder zu tief (keine Sorge, ich bin nicht dauer-unterzuckert, aber in solchen Momenten kommen schlichtweg oft unangenehme Wahrheiten und Erkenntnisse ans Licht) und heute klappt das mit dem disziplinierten Essen nicht. Auf die fünf Gummibärchen folgt ein Brot mit Honig, folgt Honig mit Joghurt, folgt ein Stück Schokolade. Immerhin schaffe ich es, mitzurechnen, damit ich dann dafür entsprechend Insulin geben kann. Trotzdem bin ich frustriert, denn aus einer „Hypo“ wird jetzt mindestens ein Looping, denn einmal zu hoch und nochmal Korrektur-zu-tief sind nach so einer Aktion schwer zu vermeiden. Anstrengend! Dafür habe ich doch gerade weder Zeit noch Energie!

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Die Achterbahn anhalten

Wie komme ich da wieder raus, sowohl runter von der Achterbahn als auch aus dem Frust, der Anstrengung und dem wenig hilfreichen Essverhalten? Tief durchatmen, einen Schritt zurücktreten und überlegen, warum ich keine Kraft hatte, eine für mich bessere Entscheidung zu treffen: Ich hatte alle Energie schon für andere Dinge aufgebraucht, für die Arbeit, für andere Projekte und Fragen, die mich gerade beschäftigen. Das ist nicht gut – ich brauche Energie, um mich gut um mich zu kümmern. Und da muss ich mir dann auch wieder eingestehen, dass Diabetesmanagement einfach Arbeit ist und Zeit, Aufmerksamkeit und Kraft braucht. Und zwar ziemlich viel, denn wie Katharina im Text zum Monatsthema scheibt, müssen wir uns ja ständig um uns kümmern und Gedanken machen. Eigentlich hat mir mein Körper gerade einen Gefallen getan und mir einen Warnschuss gegeben: Mach mal langsam, mach mal Pause, das hier ist kein haltbarer Zustand. Mit genügend Abstand kann ich meinem Diabetes dafür sogar dankbar sein. Und kann mir ein Zitat des Dalai Lama zu Herzen nehmen: „Wenn wir unsere Erwartungen verringern, werden wir Zufriedenheit erfahren.“


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