Lesley-Anns hat(te) Diabulimie - eine schwere Zeit für sie und ihr Umfeld liegt unter ihr. In ihrer Interview-Reihe fragt sie Freunde, Verwandte und andere Wegbegleiter, wie sie mit der Krankheit umgegangen sind und was sie anderen Menschen in ihrer Lage raten.
Ich habe euch bereits von meiner Diabulimie-Diagnose aus meiner Sicht erzählt. Aber von dieser Krankheit war (und bin) nicht nur ich betroffen, sondern auch meine Angehörigen. In Teil 1 von “Diabulimie – die Sicht der Angehörigen” kamen eine Freundin und mein ehemaliger Lehrer zu Wort. Dieses Mal geht es um meine Familienmitglieder.Die Antworten der Familienmitglieder
In diesem Beitrag möchte ich die Antworten zu folgenden, von mir gestellten Fragen zeigen: 1. Wie war die Zeit für dich? 2. Wie hast du mich in der Zeit erlebt? 3. Wie hast du versucht zu helfen/wie hast du geholfen? 4. Welche Tipps hast du jetzt im Nachhinein für Angehörige? 5. Wie siehst du mich heute?Mein Cousin
Mein Cousin Matthias war in der Zeit der Diabulimie keine nahestehende Person, heute ist er mein bester Freund, mit dem ich unendlich viel lachen und ohne schlechtes Gewissen genüsslich essen kann. Wie war die Zeit für dich? Die Zeit der Diabulimie war für mich, glaube ich, weniger schlimm als für andere. Wir hatten zwar immer Kontakt, aber durch deine Krankheit ist es weniger geworden, damals auch durch ein paar weitere Probleme in der Familie. Wenn wir uns gesehen haben, war es schlimm für mich, dich in diesem Zustand zu sehen, doch etwas dagegen tun konnte ich nicht. Wie hat du mich in der Zeit erlebt? In der Zeit deiner Krankheit habe ich dich nicht mehr wiedererkannt. Das fröhliche, junge Mädchen war verschwunden und vor mir stand eine zerbrechliche, abgemagerte Frau, die aussah wie eine Seniorin, die jeden Moment umfällt. Dein Lebenswille war fast nicht mehr vorhanden, deine Freude und dein Lächeln nur sehr angestrengt zu erkennen.
Meine Tante
Meine Tante Christine, die auch meine Patentante ist, ist die einzige von einigen Tanten, mit der ich engen und häufigen Kontakt habe. Ich weiß, dass sie in der Zeit der Diabulimie oft eine Stütze für meine Mama war. Bei ihr durfte und darf ich immer ich sein! Wie war die Zeit für dich? Die Zeit war für mich sehr schlimm. Am Anfang denkt man, die Krankheit ist gar nicht so schrecklich und dann wird es immer schlimmer und schlimmer. Man kann nichts tun, man fühlt sich hilflos und verzweifelt. Wie hast du mich in der Zeit erlebt? Ich habe dich als hoffnungslos wahrgenommen, du hattest aufgegeben und wolltest nicht mehr kämpfen. Du erschienst mir als antriebslos, ohne jegliche Motivation. Besonders schlimm für mich war, dass du dich sehr verschlossen und niemanden an dich rangelassen hast. Jedes Wort jede Hilfe war dir zuwider. Wie hast du versucht zu helfen/wie hast du geholfen? Ich habe immer wieder Kontakt gesucht und dir immer wieder Mut zugesprochen. Natürlich habe ich mehrfach und wiederholt meine Hilfe angeboten und vor allem habe ich immer wieder versucht, deiner Mama, also meiner Schwester, zur Seite zu stehen und ihr Kraft zu geben. Welche Tipps hast du jetzt im Nachhinein für Angehörige? Man darf niemals aufgeben, sollte immer dranbleiben, stetig Hilfe anbieten, einfach da sein und nie den Glauben verlieren, dass irgendwann alles gut werden wird. Wie siehst du mich heute? Ich sehe dich heute als eine selbstbewusste, junge Frau, die manchmal vergisst, was sie schon alles geleistet hat! Und als eine Person, die manchmal an sich zweifelt, die auch manchmal wieder zurück in ihre „Kind-sein-Rolle“ verfällt und die sich ein bisschen zu sehr auf ihre Mutter verlässt. Ich sehe aber auch, dass du dich nicht unterkriegen lässt, immer wieder aufstehst und weiterkämpfst. Vor allem sehe ich, dass du voll Vertrauen in die Zukunft schaust, dir neue Ziele steckst und nicht aufgibst. Und das liebe ich an dir!Meine Cousine
Der Kontakt zu meiner Cousine Jenny war während der Diabulimie nicht sehr intensiv, auch durch die Erkrankung. Inzwischen bin ich unendlich dankbar, dass sich unsere Beziehung so entwickelt hat, und schätze ihre liebevolle und wertschätzende Art sehr. Wie war die Zeit für dich? Es war eine schwierige Zeit für mich, da ich selbst mit dem Studium ziemlich ausgelastet war und deine Krankheit „on top“ dazukam. Die Hilflosigkeit, dich so krank zu sehen, war schmerzlich. Es war traurig, weil man gesehen hat, wie dein engstes Umfeld, vor allem deine Mama, gelitten hat. Bis zur Selbstaufgabe war sie es, die immer für dich da war und versucht hat, dich bei allem, was passierte, zu begleiten. Es war anstrengend, weil viele Situationen unberechenbar waren und Erschöpfungszustände, Kreislaufprobleme, körperliche und seelische Probleme immer auftreten konnten und in den am wenigsten passenden Situationen zu Chaos geführt haben.
Meine ältere Schwester
Meine ältere Schwester war immer mein Vorbild, ist es heute noch in vielerlei Dingen. Vor allem ihre vielen Briefe haben mir bei den Klinikaufenthalten geholfen. Ich sehe sie nach wie vor als eine große Stütze in meinem Leben, auf die ich mich verlassen kann und die immer ehrlich zu mir ist! Wie war die Zeit für dich? Es war eine durchweg fürchterliche Zeit. Man wacht nicht morgens auf und weiß: Meine Schwester hat Diabulimie. Die Diagnose kam in meinen Erinnerungen auch erst, als es schon fast wieder bergauf ging. Ich kann das alles gar nicht mehr chronologisch wiedergeben. Hattest du Diabulimie und deshalb diese fürchterlichen Durchfälle oder hattest du Durchfälle und dadurch entwickelte sich Diabulimie? In meiner Erinnerung hat dich beides kaputt gemacht. Die Zeit hätte zwei Menschen beinahe getötet, das weiß ich. Denn was diese Zeit für einen Schmerz, Kummer und seelische Grausamkeit für unsere Mutter bedeutet hat, das lässt sich nur erahnen. Wenn man zusieht, wie es dem eigenen Kind so schlecht geht – das ist ein Alptraum. Wenn ich an diese Zeit denke, dann sind zwei Gefühle sehr vordergründig: Wut und Angst. Ich war viele Minuten, Stunden und Tage sehr wütend auf dich. Ich hatte viele Minuten, Stunden und Tage sehr viel Angst um dich. Es hat unsere ganze Familie belastet. Es gab keinen Tag ohne Hiobsbotschaft und unsere Mutter war täglich kurz davor, aus dem Fenster zu springen. Dein Zustand war zeitweise so lebensbedrohlich, dass ich mir überlegt habe, welche Worte ich auf deiner Beerdigung sprechen würde. Natürlich hatte ich Mitleid, auch wenn das Wort etwas flach klingt – aber ich hatte eben auch diese Wut. Natürlich konnte ich kognitiv verstehen, warum du das getan hast, aber ich hatte eben auch diese Wut. Wie hast du mich in dieser Zeit erlebt? Da gab es in meiner Erinnerung zwei Seiten: die eine Seite, die wirklich gelitten hat, und die andere Seite, die die Aufmerksamkeit genossen hat. Du warst zeitweise am Boden, völlig fertig und mehr tot als lebendig, aber es gab auch diese Momente, in welchen ich das Gefühl hatte, du findest es ganz gut, dieses „Theater“ und die „Aufmerksamkeit“ rund um deine Person.
Ein Kommentar zu “Diabulimie – die Sicht der Angehörigen (Familienmitglieder)”