Anne liebt es, aus neuen Blickwinkeln über Diabetes zu schreiben. Dieses Mal wagt sie einen Perspektivwechsel mit Jörg Scheller, Wissenschaftler, Kraftsportler und Musiker.
Für Menschen mit Diabetes spielen Essen und das Zerlegen und Zählen von seinen Bestandteilen Kohlenhydraten, Eiweißen eine große Rolle. Aber es gibt auch Menschen, die freiwillig auf Carbs und Co achten und das nicht weniger penibel. Einer von ihnen ist Jörg Scheller, Kunstwissenschaftler, Journalist und Heavy-Metal-Musiker.
Jörg Scheller forscht zu Körperkultur mit Schwerpunkt Bodybuilding, Ausstellungsgeschichte, Popkultur und Popmusik (v.a. Heavy Metal), promovierte über Arnold Schwarzenegger und ist seit 2019 Professor für Kunstgeschichte im Departement Fine Arts der Zürcher Hochschule der Künste. Und er ist leidenschaftlicher Bodybuilder im wahrsten Wortsinne, stählt seinen Körper in Studios an Geräten und schweißtreibenden Trainings und mit der entsprechend optimierten Ernährung.
Ich habe mich und dann direkt ihn selbst gefragt, was er da eigentlich zählt. Warum er es macht und mit ihm viele andere, was ihn antreibt und wie er sich antreibt und – was wir von ihm und er vielleicht von uns lernen kann.
Vorstellung: Jörg Scheller
Anne Seubert: Lieber Jörg, wie stellst du dich selbst vor?
Jörg Scheller: Bei Kraftsportlern Intellektueller. Bei Intellektuellen Kraftsportler. Bei Wissenschaftlern Feuilletonist. Bei Feuilletonisten Wissenschaftler. Bei Musikern Autor. Bei Autoren Musiker. Bei Konservativen Progressiver. Bei Progressiven Konservativer. Und immer so weiter.
Anne: Ein Chamäleon also? Ein Tausendsassa? Damit passt du gut in die Blood Sugar Lounge, hier gibt es Autoren, Musiker, Wissenschaftler und Menschen, die gerne teilen und dazulernen möchten. Die sich täglich neu erfinden. Und die eine ganz besondere Beziehung zu ihrem Körper haben. Wie würdest du deine Beziehung mit deinem Körper beschreiben?
Wir führen eine innige Fernbeziehung.
Anne: Eine Fernbeziehung, die du auch auf Twitter (@joergscheller1) dokumentierst.
Sag, was bringt dich dazu, Nahrung in Carbs und Eiweiße und Fette zu zerlegen, auch wenn du kein Diabetiker bist?
Jörg: Ich folge einfach dem Weg der Moderne. Seit dem 19. Jahrhundert wird ALLES in seine Einzelteile zerlegt, bis hinunter zu den Elementarteilchen – so funktioniert auch modernes Krafttraining, bei dem Muskel für Muskel separat bearbeitet wird, und so funktioniert die Digitalisierung, welche unsere Realität in immer feinere Partikel auffächert. Das Schöne – aber auch Anstrengende! – an diesem Prozess ist, dass die Zerlegung es uns erlaubt, die Dinge neu zusammenzustellen. So auch in der Ernährung.
Jörgs Ernährungsweise
Anne: Wenn man immer mitzählt, immer analysiert, was auf den Teller kommt und was nicht, kann Ernährung ja auch schnell dazu führen, ein gestörtes Verhältnis zu Nahrung zu entwickeln. Nur noch auf die Bestandteile zu achten. Ich kann mir das beim Training ähnlich vorstellen. Wie schaffst du es, dass der Genuss nicht zu kurz kommt? Wie schaffst du es, Nahrung in Carbs und Eiweiße und Fette zu zerlegen und NICHT zu zählen?
Jörg: Hinter das Wissen, dass alles zerlegbar ist, führt kein Weg zurück. Zugleich hat die Zerlegerei und Zählerei und Berechnerei ihre Grenzen. Ich persönlich zähle keine Kalorien und keine Fette, nur Eiweiß. Das macht sich im Kraftsport bezahlt. Was darüber hinausgeht, ist mir zu aufwändig. Einen Großteil der Ernährungstrends halte ich sowieso für Esoterik – ich richte mich nach ein paar wissenschaftlichen Erkenntnissen, passe die Ernährung an meinen Lebensstil an, that’s it.
Anne: Diese Einstellung teilen hier viele: Die Anforderungen des Diabetes an den eigenen Lebensstil anpassen und nicht umgekehrt. Trotzdem ist Motivation immer wieder ein wichtiges Thema. Was ist das bei dir, was treibt dich an?
Jörg: Neugier, Wut, Liebe, Gerechtigkeit, Reihenfolge variabel.
Anne: Ich würde für mich noch den Trotz hinzufügen. „Jetzt erst recht!“ findet sich immer wieder in meinen Gedanken. Kennst du das?
Jörg: Trotz ist Widerstand jenseits des Ideologischen. Man trotzt nicht aus irgendwelchen religiösen, politischen, weltanschaulichen Gründen. Man trotzt, weil man trotzt. Es ist wichtig, sich das „I prefer not to“ des Trotzes zu bewahren…
Anne: Wenn du doch mal selbst mittreiben musst, hast du Methoden, mit denen du dich selbst antreibst, wenn es gerade mal nicht von selbst läuft? Oder vielleicht sogar auch mal bremst, wenn es zu viel wird?
Jörg: Ich wollte immer schon ein intensives, herausforderndes Leben führen. Meine erste Band habe ich mit 13 gegründet, mit 14 Jahren standen wir auf der Bühne. Seitdem ich 15 Jahre alt bin, bin ich im Gym, mit Henry Rollins im Kopfhörer. Aber wahrscheinlich treibt einen nichts so sehr an wie das Gefühl, dass das, was man macht, Sinn ergibt. Zu trainieren, zu publizieren, zu debattieren, zu differenzieren, zu irritieren, zu kombinieren, all das ist aus meiner Sicht sinnvoll – und dafür, das heute professionell tun zu können, habe ich hart, teils über Belastungsgrenzen hinaus, gearbeitet.
Anne: Und was frustriert dich?
Jörg: Wenn Menschen Argumenten nicht zugänglich sind. Wenn Identitäten verhärten. Wenn Pluralismus ein Lippenbekenntnis bleibt – gerade auch im Politischen.
Diabetes: Krankheit als Innovationstreiber
Anne: Was stellst du dir unter einem Menschen mit Diabetes vor? Kennst du Diabetiker?
Jörg: Ich muss mir nichts vorstellen, ich kenne einige Diabetiker. Sie sind überaus verschieden, wie alle Menschen. Lemmy Kilmister von Motörhead war einer der Menschen, die mich am meisten inspiriert haben – und er war Diabetiker. Auf seinen gottgleichen Status in der Metal-Community angesprochen, sagte er mir einmal im Interview: „Ich habe Diabetes. Gott nicht. Also kann ich nicht Gott sein.“
Anne: Ein Gott mit Diabetes ist eine schönes Gedankenspiel. Ein Gott, der Motörhead hört und Kampfsport betreibt auch, und es zeigt, wie spannend und vielleicht auch entspannend Perspektivwechsel sein können. Wärst du denn für mehr Austausch zu haben?
Jörg: Klar, ich bin neugierig auf Vieles – manchmal auf zu vieles! Es fehlen schlicht die Zeitressourcen… Ansonsten gilt für mich natürlich: Mit Diabetikern unterhalte ich mich wie mit allen anderen Menschen auch. Wenn die Rede auf die Krankheit kommt, wenn Interesse an einem Austausch besteht, sehr gerne. Wenn nicht, dann nicht. Wir sind ja alle mehr als unsere Krankheiten oder „Gesundheiten“. Interessant finde ich, wie aus Einschränkungen und Problemen neue Technologien und Kulturtechniken entstehen. Krankheit ist, auch wenn das zynisch klingen mag, ein Innovationstreiber.
Anne: Lieber Jörg, vielen Dank für die Einblicke, für deine Perspektive und dein Gesprächsangebot, das ich hiermit an euch weiterleite: Auf in die Kommentare mit euren Fragen!
Und wer jetzt neugierig auf den Musiker, Autor, Sportler und Wissenschaftler Jörg Scheller geworden ist, der findet ihn übrigens im Netz an verschiedenen Orten:
www.joergscheller.de
https://twitter.com/joergscheller1
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