Die Nach-Entbindungs-„Hypo“ und die Schwangerschaftsdemenz

Der Alltag mit einem Neugeborenen oder mit Kleinkindern ist stressig und brachte - in Vivis Fall - immer wieder „Hypos“ mit sich. Sie verrät, wie sie damit umgegangen ist und weiterhin umgeht.

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„Wenn man ein Kind bekommt, verändert sich alles…“

Ähnliche Sätze wie diese hört man oft vor und während der Schwangerschaft. Kaum ist das Neugeborene da schwant uns die eigentliche Bedeutung dieser Aussage. Während die bis ins Mark gehende Erschöpfung der Geburt noch nicht nachgelassen hat, werden wir frischgebackenen Mamis schon unermüdlich geweckt und aus dem Bett gezerrt – zum Stillen, zum Wickeln, zum „Umhertragen“. So werden die Nächte zu Tagen, Tage ziehen dahin und werden zu Wochen und Monaten. Die Erschöpfung bleibt, gräbt tiefe Augenringe in die Haut und Concealer wird zum neuen „Must-have“.

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Für gesunde Mütter ist diese Metamorphose bereits eine psychische und physische Dauerbelastung. Nicht selten sieht man Mütter, die schlanker sind als vor der Schwangerschaft. „Die Hormone…“, sagen viele. Ich behaupte blindlings, es sind der Stress, der mangelnde Schlaf, die fehlende Zeit, Geduld oder Muße für ein anständiges Mahl.

Ad-hoc-Gewichtsverlust

Für mich als Diabetikerin fühlte sich der Start ins Mama-Sein noch belastender an. Innerhalb weniger Stunden hatte ich 11 kg Gewicht verloren und entsprechend wieder einen ganz anderen, schwer abzuschätzenden Insulinbedarf. Ich wusste natürlich, dass diese Situation auf mich zukommen würde, und tastete mich vorsichtig an den neuen Insulinbedarf heran, indem ich zunächst sehr wenig spritzte – fast 1 BE (12g KH) : 1 E. Dennoch spielte die Erschöpfung mit wie ein sportlicher Nachbrenneffekt und ich unterzuckerte fast stündlich nach der Entbindung.

Der Teufelskreis

Aus guter Vorsorge hatte ich mir viele Bananen und Apfelsaft mit ins Krankenhaus genommen. Doch kam ich kaum zur Ruhe. Kaum hatte mein Baby geschlafen, unterzuckerte ich – kaum hatte ich das wieder überstanden, schrie mein Baby. Es war ein Teufelskreis.

M(ama) Poppins

Aus dem Krankenhaus entlassen, lernte ich schnell die Magie der Windeltaschen und Kinderwägen kennen. Wie Mary Poppins bewegte ich mich umher. Jeder mögliche Baby-Vorfall war quasi irgendwo in meinen „Baby Gadgets“ verpackt und vorgedacht: Windeln, Tücher, Gläschen, Fläschchen, Schnuller und Ersatz, Spielzeug, Wechselkleidung, Decke etc., aber auch Unfall-/Notfall-Utensilien wie Windelcreme, Arnica-Tröpfchen, „Bachblüten Rescue Creme“ und Pflaster waren immer „on Board“. Doch unter all diesen unzähligen Dingen vergaß ich ständig mich selbst und meinen Diabetes.

Der Spazier-Zwang

Mit dem ersten Kind hatte ich eine Art „Spazier-Zwang“. Ich dachte, es sei eine „Win-win“-Situation, wenn ich keinerlei öffentliche Verkehrsmittel nutzen würde: Das Kind bekommt frische Luft und ich Bewegung im Kampf gegen die übrigen Schwangerschaftspfunde. Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass ich durchschnittlich 10 km – manchmal sogar mehr – am Tag gelaufen bin.

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Schweißgebadet auf der Flucht

Zwischendurch kam ich mir immer wieder vor wie auf der Flucht. Einmal „kackerte“ sich meine Tochter komplett ein – bis zum Hals. Sie schrie wie am Spieß und es war mir unmöglich, schnell Abhilfe zu leisten. Ich konnte sie in diesem Zustand nicht einfach so auf der Wiese oder einer Parkbank wickeln. Ich nutzte schließlich eine Wasserflasche, um das Kind zu säubern, denn Feuchttücher alleine halfen bei diesem Malheur nicht mehr weiter [1].

Manchmal hatte ich meine Wasserflasche vergessen und so rannte ich mit einem schreienden Bündel entweder zu einem nahegelegenen Supermarkt, um Wasser zu kaufen, oder versuchte, einen „Wasserspielplatz“ zu finden, um mir was abzufüllen. In der größten Notlage nutzte ich natürlich auch mal tausende von Feuchttüchern, aber das war viel schwieriger als ein „Wasserbad on the go“. Tatsache ist, dass ich aus allen Poren schwitzte in solchen Situationen. Stress, Panik, Eile, Ekel… War eine solche Situation überstanden, unterzuckerte ich in der Regel kurz darauf.

Nach dem Stress ist vor dem Stress

Wieder kam ich in Stress. Ich wühlte eifrig in meinen Taschen und im Kinderwagen nach Zuckerhilfen, um schließlich zu bemerken, dass ich an alles gedacht hatte – nur nicht an meinen Diabetes. Wieder suchte ich nach einem Kiosk, einem Supermarkt, um mir eine Kleinigkeit zu kaufen. Doch manchmal war ich mitten in einem Waldstück – weit und breit nichts und niemand. Allein der plötzliche Gedanke an eine Ohnmacht und mein Baby stünde da alleine auf einer Lichtung, machte mich wahnsinnig und immer zappeliger. Not macht erfinderisch… Ich wühlte schließlich alle Baby-Snacks raus, schlang Gläschen hinunter, aufgeschnittenes Obst, Hirsekringel etc., um dann schockiert zu bemerken, wie viel Zucker ich meinem Baby da eigentlich so im Laufe des Tages verabreichen würde.

„Schwangerschaftsdemenz“

Im Endeffekt schaffte ich es, bewegte mich schnell aus dem Wald in Richtung Zivilisation und packte mir beim nächsten Geschäft Ersatz-Utensilien ein. Leider waren diese ungeplanten „Hypos“ jedoch auch sehr kontraproduktiv, um Schwangerschaftspfunde zu verlieren, und ich sah ein, dass ich die Dinge besser ein- und vorplanen musste. Dennoch… Der Alltag als Mutter ist anstrengend, und ob es nun eine „Schwangerschaftsdemenz“ ist oder eine andere Art der Zerstreutheit, kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass mir solche Situationen zigmal passiert sind und auch heute immer wieder unterlaufen.

Der Alltag

Heute mache ich keine Spazier-, sondern Arbeits-Marathons. Täglich bringe ich zwei Kinder in zwei verschiedene Betreuungseinrichtungen und hole sie am späten Nachmittag wieder ab. Um in einem fast „Vollzeit-Job“ (90%) alles zu schaffen, gelingt mir manchmal keine richtige Mittagspause. Zu lange Meetings oder Telefonate führen dazu, dass ich fast immer Bussen oder der U-Bahn hinterherlaufe, um noch rechtzeitig bei meinen Kindern anzukommen. Natürlich gehen wir dann noch kurz zusammen auf den Spielplatz. Auch hierfür muss ich zuvor – am Morgen – an alles gedacht haben, vor allem an Trinken, Snacks und Wechselklamotten. Wie oft ich meinen Kids auf einmal die Snacks wegklaube, weil ich ungeplant mal wieder in eine „Hypo“ rutsche, kann ich kaum zählen. Andere Mamis haben mir auch schon oft mal ausgeholfen.

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Danke fürs Mitdenken

Mittlerweile sind meine Kinder daran gewöhnt und erinnern mich glücklicherweise auch mal proaktiv daran, dass ich auch an meine „Hypo“-Helfer denken muss, wenn ich morgens meine Tasche packe. Das ist das Schöne daran – meine Kinder fangen an mitzudenken und teilen bereitwillig ihre „Quetschis“ und Gummibärlis, wenn Mama mal wieder schweißgebadet auf dem Spielplatz rumzittert.

Nobody is perfect

Es gab Zeiten, da hätte ich mich dafür geschämt. Heute denke ich, es ist gut, dass meine Kinder meine Stärken UND meine Schwächen kennen. Ich habe nichts „vertuscht“. Ich versuche, immer an alles zu denken, aber „nobody is perfect“. Meine Kinder – aber vor allem auch ich – haben in den ärgsten Situationen gelernt, nach Lösungen zu suchen, anstatt zu verzweifeln. Eine starke „Hypo“ weckt instinktiv auch einen starken Überlebenskampf in einem. Es schärft die Sinne für das, was wichtig ist: das Leben.

[1] Eine Flasche stilles Wasser empfiehlt sich übrigens immer dabeizuhaben. Heute sind meine Kinder größer, aber die Sauereien auch. Mal kann man die Hände damit waschen, mal den Mund, mal dreckige Schuhe etc. Es ist umweltschonend und effektiver als Feuchttücher.


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