Zufriedenheit ist das höchste Gut – ein Interview mit Christoph Engelsmann

Christoph Engelsmann (68) hat seit 67 Jahren Typ-1-Diabetes und auch er hat sich auf unseren Interview-Aufruf gemeldet. Im Gespräch mit Vivi erzählt er von den ersten Jahren nach der Diagnose und seinen Wünschen für die Zukunft.

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Es war das Jahr 1952, als Christoph Engelsmann (68) in Bremen das Licht der Welt erblickte. Der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland hatte gerade begonnen und erstmals durften deutsche Sportler nach dem Krieg wieder an den Olympischen Spielen teilnehmen. Es gab einen weit verbreiteten, bescheidenen Lebensstandard, aber eine hohe Arbeitsmoral und der Staat schaffte den sogenannten „goldenen Boden“ für die folgenden drei, fast vier Jahrzehnte.

Engelsmanns Diabetes-Diagnose

Christoph Engelsmann erlitt im ersten Lebensjahr eine schwere Mittelohrentzündung. Kurz darauf habe er so stark abgebaut, dass seine Mutter ihn zum Landarzt brachte. Dieser hatte leider absolut keine Ahnung, was dem Kleinkind fehlen möge, und überwies den einjährigen Christoph Engelsmann zügig in das Kinderkrankenhaus nach Bremen, wo nach diversen Tests schließlich Diabetes Typ 1 diagnostiziert wurde.

In der Familie Engelsmann gab es zuvor keine Diabetiker. Die Diagnose ihres kleinen Sohnes bedeutete für die Mutter das Einarbeiten in viele neue Metiers, bei denen es buchstäblich um das Überleben ihres einzigen Sohnes ging – der schließlich auch ein Einzelkind bleiben sollte. Es wurde eine strenge, kohlenhydratarme Diät verordnet und die Gerätschaften umfassten Alt-Insulin und eine Glasspritze mit Kanülen, die täglich ausgekocht werden mussten. Zur Orientierung gab es nichts außer gelegentliche Urin-Tests und das „Bauchgefühl“, denn Blutzuckermessgeräte waren zu dieser Zeit noch nicht erfunden worden.

Die große Verantwortung

Als Mutter zweier Kinder kann ich die Bürde der Verantwortung nachempfinden, die Christoph Engelsmanns Mutter vor 67 Jahren teilweise empfunden haben muss. Die ständige Angst um das Leben des Kindes und das Anliegen, alles richtig zu machen und alles Erdenkliche zu tun, damit das Kind eine „normale“ Lebenserwartung hat. Doch manchmal sorgt Angst auch für große Sorgfältigkeit. So prägte Frau Engelsmann ihren Christoph mit einer sehr konsequenten, ausgewogenen Ernährung, die er bis heute mit Begeisterung einhält. „Mein Zucker war durch viel Disziplin schon immer stramm eingestellt“, sagt Herr Engelsmann heute, der trotz eines langen Lebens mit Typ-1-Diabetes ein stetiges HbA1c zwischen 6 und 7% hat und bislang keine Folgeerkrankungen erlitt.

Quelle: unsplash

Leider sollte Typ-1-Diabetes nicht die einzige Autoimmunkrankheit von Herrn Engelsmann bleiben. Anfang der 1980er Jahre (vor rund 40 Jahren) erkrankte der damals 28-jährige Christoph Engelsmann zusätzlich an Morbus Addison. Das ist eine seltene, jedoch potentiell lebensbedrohliche Erkrankung mit einem unter Umständen vollständigen Funktionsverlust der Nebennierenrinde. Die Symptome traten in einem Wanderurlaub auf. Auf einmal fühlte sich der sonst so agile Christoph Engelsmann extrem schlapp und hatte keinen Hunger bzw. stattdessen Brechanfälle vom Essen und vom Essensgeruch. Sein Blutzucker sank fast ins Bodenlose, sodass er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wo die Diagnose nicht lange auf sich warten ließ.

Eine weitere Autoimmunkrankheit

Durch diese zusätzliche Autoimmunkrankheit muss Herr Engelsmann nun ein Leben lang fehlende Hormone einnehmen (Substitutionstherapie), sowie Hydrocortison in Kombination mit Fludrocortison. Diese Medikamente lassen sich nicht leicht mit dem Insulin abstimmen und sorgen bis heute für tägliche Blutzuckerschwankungen zwischen 30 mg/dl (1,7 mmol/l) und 300 mg/dl (16,7 mmol/l).

Rückblickend stellt Herr Engelsmann fest, dass die „massiven“ Unterzuckerungen erst seit der zusätzlichen Erkrankung an Morbus Addison auftreten. Zuvor hätte sein Diabetes solche Schwankungen überhaupt nicht gekannt.

Auf meine Frage, ob ein Leben ohne Diabetes etwas für ihn verändert hätte, antwortet Herr Engelsmann mit einem Hauch von trockenem, norddeutschem Humor im Unterton: „Nichts. Ich kenne doch gar kein anderes Leben. Hätte ich am Fließband gearbeitet, hätte es wohl Ärger gegeben, aber ich hatte in meinem Leben Jobs, die zu mir passten, und bin insgesamt zufrieden mit meinem Leben.“

Herr Engelsmann war zunächst als pharmazeutisch-technischer Assistent tätig, studierte parallel Kunstgeschichte und dozierte über diese Fachrichtung später an der Universität Bremen. Dort konnte er sich die Vorlesungen gut einteilen, sagt er. Für ihn waren es beides ideale Jobs, die sich mit seinem Diabetes leicht vereinbaren ließen, und das wäre wichtig und würde er jedem anderen Diabetiker weiterempfehlen, so Engelsmann.

Christoph Engelsmann, der heute zusätzlich an Prostatakrebs leidet, rät jedem Typ-1-Diabetiker ferner zu einem CGM-Gerät. Trotz seines Diabetes, der zusätzlichen Erkrankungen und dadurch stark schwankenden Blutzuckerkurven habe er lange bei den Krankenkassen um eine Genehmigung des Dexcom G6 kämpfen müssen. Es ärgert Herrn Engelsmann, dass es nicht allen Typ-1-ern ermöglicht wird, von diesem nützlichen Hilfsmittel zu profitieren. „So wie ein Blutzuckermessgerät heute eine selbstverständliche Grundlage für das Diabetes-Management ist, hoffe ich, werden es eines Tages CGMs sein, die den Standard für jeden Diabetiker abbilden“, so Christoph Engelsmann.

„Man muss sein Leben so leben, dass es zu einem passt. Sonst ist das nicht gut für den Zucker.“

Für die Zukunft wünscht Herr Engelsmann sich noch zuverlässigere CGM-Systeme, ohne Abweichungen und vielleicht sogar wasserdichte Lese- bzw. Empfangsgeräte. Ein transparenter Vergleich aller Hilfsmittel à la „Stiftung Warentest“ wäre ferner etwas sehr Nützliches, worüber er sich zukünftig sehr freuen würde und was einen großen Mehrwert zur Orientierung aller Diabetiker und Diabetologen hätte.

Abschließend sagte Christoph Engelsmann: „Man muss sein Leben so leben, dass es zu einem passt. Sonst ist das nicht gut für den Zucker.“

In diesem Sinne danke ich Herrn Engelsmann für seine Gesprächszeit, sein Vertrauen und seine Positivität. Er hat mir – einer 30 Jahre jüngeren Leidensgenossin – nochmal aufgezeigt, dass es im Leben nun mal Berge gibt, über die jeder hinübermuss, – sonst geht der Weg nicht weiter. Diabetes ist kein Hindernis, um ein gutes Leben zu führen, sondern bietet einem im Gegenteil sogar, die beste Gelegenheit, lebenslang auf sich zu achten und eine besondere innere Stärke zu entwickeln.


Ein weiteres spannendes Interview zum Thema Diabetes im Alter hat Susanne geführt: Den eigenen Weg gehen – ein Interview mit Jürgen Schultz

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