Obdachlos: Zucker auf der Straße

In der heutigen Zeit, so wird uns Diabetikern oft gesagt, gibt es ja so tolle Behandlungsmöglichkeiten und Gadgets. Aber was, wenn man als Diabetiker nicht mal ein Dach über dem Kopf hat? Susanne hat in Hamburg mit Caritas-Mitarbeitern gesprochen, die sich auf beeindruckende Weise für die medizinische Versorgung der rund 2.000 Obdachlosen in der Hansestadt engagieren.

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Wo bekomme ich die nächste Mahlzeit her? Wie kann ich meine regennassen Klamotten trocknen? Und was tun, wenn der Suchtdruck immer größer wird? Wer als Obdachloser tagtäglich mit solchen Überlebensstrategien zu kämpfen hat, kann sich nur schwer um seinen Diabetes kümmern. Falls er überhaupt gerade Insulin hat.

Fünfmal die Woche zu den Brennpunkten der Obdachlosen

Das erzählt Annette Antkowiak, die seit 20 Jahren das Krankenmobil der Caritas in Hamburg koordiniert. Fünfmal die Woche fährt das Team des Krankenmobils auf festen Touren zu den Brennpunkten der Obdachlosen und behandelt dabei wie in einer Hausarztpraxis von Kopfschmerzen bis zu offenen Unterschenkelgeschwüren jeden, der kommt. Und immer begleitet von einem fest angestellten Fahrer oder einer Fahrerin und einem der 16 ehrenamtlichen ÄrztInnen aus vielen verschiedenen Fachrichtungen. „Die Orte und Zeiten haben unsere Patienten gelernt“, berichtet die engagierte Krankenschwester, die das nötige autoritäre Auftreten mit spürbarer Fürsorge vereint. „Montagabends stehen wir zum Beispiel unter anderem am Hansaplatz, mittwochs ist meist ein polnisch sprechender Arzt dabei – unsere Patienten kennen unser Angebot und sind sehr dankbar dafür.“

„Bei jeder Belegung ist ein Diabetiker dabei“

Wer zu krank ist, um auf der Straße versorgt zu werden, wird in die Krankenstube in St. Pauli vermittelt, das zweite medizinische Angebot der Caritas in Hamburg. Dort gibt es 18 Betten, sechs MitarbeiterInnen arbeiten in drei Schichten rund um die Uhr, und einmal in der Woche kommt ein Arzt. Die Patienten bleiben zwischen einer Woche und einem halben Jahr. „Bei jeder Belegung ist ein Diabetiker dabei“, bilanziert Antkowiak, die aber auch klarmacht, dass Diabetes nicht das primäre Problem der Wohnungslosen ist, die neben dem täglichen Überlebenskampf zusätzlich häufig mit Suchtproblematiken zu kämpfen haben. Vor allem Sprachbarrieren machen Schulung und Sensibilisierung für das Thema schwer, auch wenn Betroffene in der Krankenstube regelmäßig ihren Blutzucker messen und ein festes Behandlungsschema erhalten.

Alle Medikamente sind gespendet

Das Ziel bei jedem obdachlosem Diabetiker sieht Antkowiak in der Übermittlung an die Schwerpunktpraxis in der Hamburger Innenstadt. Das ist die dritte Säule im Medizin-Angebot für Obdachlose der Caritas an der Elbe. Dort finden dreimal die Woche Sprechstunden statt; dank einer Kassenzulassung der Praxis und einem Agreement zwischen Behörde, AOK Hannover und der Caritas können Patienten auch ohne Krankenversicherung dort zuschlagsfreie Rezepte erhalten. Dort bekommen Diabetiker auch Insulin, sofern welches vorrätig ist. Denn die Medikamente bezieht die Caritas auf Spendenbasis. „Metformin haben wir immer, aber die bessere Variante Velmetia und Insulin kaum“, so die Leiterin des Krankenmobils. „Ich bitte alle Diabetiker, die noch haltbare Medikamente haben, die sie nicht mehr benötigen, nicht nach Afrika zu spenden, sondern uns zu geben.“ Denn abgelaufenes Insulin verabreichen, das käme für Antkowiak nicht in Frage. „Die obdachlosen Menschen stehen doch eh schon am Rand der Gesellschaft.“

„Danke, du bist mein Engel!“

Antkowiak ist ein echter Engel für die rund 2.000 offiziell gezählten Obdachlosen in Hamburg (plus Dunkelziffer, die durch die Flüchtlingswelle stark gestiegen ist). Das spürt man schnell, wenn man eine Tour im Krankenmobil begleitet. Und das sagen ihr einige Patienten auch ganz direkt: „Danke, du bist mein Engel!“
Sprachbarrieren sind eines der größten Probleme. Annette Antkowiak hat daher Piktogramme gebastelt, auf die die Patienten einfach deuten können. © Susanne Löw
Man kennt sich ja auch schon teils seit vielen Jahren, das Krankenmobil führt eine Patientendokumentation, Antkowiak und ihr Team können nachsehen, was beispielsweise im Jahr 2005 verabreicht wurde. Kommen darf jeder, auch in die Krankenstube und in die Praxis – es sei denn, die Patienten halten sich wiederholt nicht an die Hausregeln. Wer andere tätlich oder auch verbal angreift, erhält Hausverbot. Wenn die Caritas-Helfer auf einen absoluten Notfall treffen – Antkowiak erinnert sich an einen Diabetiker im Krankenmobil, der kein Insulin mehr hatte und bei dem das Messgerät nur noch „High“ angezeigt hat –, schicken sie ihn in die Notaufnahme einer Klinik. Da muss geholfen werden – auch ohne Versicherungsschutz. Der Notfalltopf bezahlt. „Dort werden die Leute auf ein Blutzucker-Normalmaß gebracht und wieder auf die Straße gesetzt“, berichtet Antkowiak. Was würde sie sich wünschen? „Eine Diabetes-Praxis, in der auch polnisch gesprochen wird, die kostenfrei arbeitet.“

Die bessere Alternative

Ist es nicht unglaublich frustrierend für die Helfer, wenn Patienten sich nicht an Therapievorgaben halten (können), immer wieder abstürzen, zwischen zwei Krankenmobil-Touren an multiplem Organversagen sterben? Wenn man ihnen nur begrenzt Medikamente mitgeben kann oder Menschen mit tiefen Wunden nicht wie vereinbart die Woche drauf wiederkommen, sondern erst nach drei Wochen, wenn alles wieder entzündet ist? Das habe ich auch die Chirurgin Janina Eigenwald gefragt, die auf der Tour arbeitet, bei der ich dabei sein durfte. An ihre Antwort muss ich oft denken: „Frustrierend? Nein. Alle Obdachlosen, die wir heute Abend behandeln, haben entweder uns oder gar niemanden. Da sind wir eindeutig die bessere Alternative, wir können zumindest immer ein bisschen helfen.“ Hat jemand Insulin oder andere Medikamente und Diabetesutensilien übrig? Frau Antkowiak und ihre Caritas-Kollegen freuen sich über eine Nachricht – und damit auch alle obdachlosen Diabetiker in Hamburg. Tel.: 040/38088112 ; E-Mail: antkowiak@caritas-hamburg.de

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