Warum greifen wir wider besseres Wissen zu Pommes statt Salat?

Die meisten von uns können die Empfehlungen für eine gesunde Ernährung auswendig rauf- und runterbeten. Beim Kongress Ernährung 2018 hat Antje herausgefunden, warum es uns trotzdem so schwerfällt, uns danach zu richten. Schuld sind nämlich die Entscheidungsstrukturen im Gehirn.

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Viel Gemüse und Obst, am besten fünf Portionen am Tag. Vollkorn statt Weißmehl, wenig Zucker, lieber Fisch als Wurstwaren und bitte einen großen Bogen um Fast-Food-Ketten machen… Was eine gesunde Ernährung ausmacht, hat sich mittlerweile in weiten Kreisen der Bevölkerung herumgesprochen. Ebenso ist bekannt, dass gesundes Essen nicht fad und eintönig schmecken muss und dass man sich an vollwertiger Kost durchaus sattessen kann. Und trotzdem gelingt es selbst den Aufgeklärten unter uns nur selten, diesen Empfehlungen wirklich zu folgen.
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Essen ist ein emotional gesteuerter kultureller Akt

Pommes schlägt Salat – doch warum ist das eigentlich so? Um diese spannende Frage ging es in dem Eröffnungsvortrag beim Kongress Ernährung 2018, den ich im Juni in Kassel besucht habe. Am Gehirn liegt es – meinte Privatdozent Dr. Thomas Ellrott, Ernährungspsychologe aus Göttingen. Und an kulturellen Zusammenhängen, sagte Professor Dr. Gunther Hirschfelder, der in Regensburg vergleichende Kulturwissenschaften lehrt. Für Experten sei Ernährung eine stoffliche Angelegenheit und damit rational zu erfassen. Für „die Menschen da draußen“ hingegen sei Essen ein emotional gesteuerter kultureller Akt. Insbesondere für Menschen mit chronischen Erkrankungen sei Essen sogar oft noch stärker emotional besetzt als für Gesunde.

Beim Essen punktet das intuitive System, das schnelle Entscheidungen trifft

„In unserem Gehirn sind zwei Bereiche für Entscheidungen zuständig“, erklärte Dr. Ellrott. „Das intuitive System, eine Art Autopilot, der sich an Gewohnheiten orientiert und deshalb sehr schnell reagiert – auch dann, wenn das Gehirn gerade mit anderen Arbeiten beschäftigt ist. Und das räsonierende System, das auf Basis von Sachinformationen entscheidet.“ Letzteres erfordert für den Entscheidungsprozess allerdings sehr viele Ressourcen: „Das Gehirn ist dann voll ausgelastet und hat keine Kapazitäten mehr für andere Dinge.“ Allerdings seien die Gehirne von Menschen im heutigen schnelllebigen Alltag und digitalen Dauerstress bereits komplett ausgelastet: „Da bleibt kein Raum mehr für langwierige Ernährungsentscheidungen, deshalb tendieren wir beim Essen zum intuitiven System, das schnelle Entscheidungen trifft.“
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Konsummuster als Ausdrucksmittel unserer Identität

Die Gewohnheiten, die das intuitive System für seine Entscheidung blitzschnell heranzieht, sind wiederum stark kulturell geprägt. Prof. Hirschfelder erklärte: „In meiner Jugend wurden Menschen noch in politisch links oder rechts unterteilt, das war unser Erklärungsmodell für nahezu alles. Doch heute wächst eine ideologiefreie Generation heran, die sich vor der ganz großen Weltdeutung scheut.“ Für viele von ihnen sei daher nun das Essen zu einer Art Ersatzreligion geworden, was auch den Zulauf zu speziellen Ernährungsformen wie Veganismus, Steinzeit-Diät oder glutenfreier Kost erkläre. Für ihre Verfechter hätten diese besonderen Ernährungsformen einen kulturellen Zusatznutzen, denn sie könnten auf der Suche nach Halt und Orientierung – ähnlich wie eine Religion – soziale Zugehörigkeit stiften. „Heute fungieren Konsummuster als Ausdrucksmittel unserer Identität“, meinte Prof. Hirschfelder, „wer sich über die entsprechenden Gruppen in den sozialen Medien einem bestimmten Ernährungsstil verschreibt, der wird aufgenommen wie in eine Glaubensgemeinschaft.“

Am Kühlschrank der Überregulierung durch die moderne Welt entfliehen

Die Identifikation mit einem bestimmten Ernährungsstil führe zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit, das Menschen im Alltag sonst schnell abhandenkommt. „Denn wir leben ja in einer Welt der Hypermoral und Überwachung, in der wir den ganzen Tag reguliert und gesteuert werden“, betonte Prof. Hirschfelder, am Kühlschrank wollten viele genau dieser Überregulierung von außen dann entfliehen. Und während sich manche Zeitgenossen freiwillig dem Diktat eines trendigen Ernährungsstils unterwerfen, gibt es daneben auch die Fraktion der Rücksichtslosen: „Sie verhalten sich rücksichtslos gegenüber dem eigenen Körper, frei nach dem Motto ‚Ich gönne mir das jetzt’“, erklärte der Kulturwissenschaftler. „Hinzu kommt die wachsende soziale Spaltung unserer Gesellschaft. Es gibt einfach immer mehr Menschen, die schlicht ganz andere Sorgen haben, als über richtiges Essen und Trinken nachzudenken, weil sie Schulden haben, zwei Jobs arbeiten müssen und ihre Lebenssituation als ungerecht wahrnehmen. Da hat man dann keine Lust, sich dem moralischen Ernährungsimperativ der Mehrheitsgesellschaft zu unterwerfen.“
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Ein Moment des Innehaltens hilft, das automatisierte Verhalten zu steuern

Die beiden Experten Prof. Hirschfelder und Dr. Ellrott waren einig, dass zwei Generationen Ernährungsaufklärung nicht allzu viel gebracht haben. Trotzdem sehen sie sinnvolle Ansatzpunkte, mit denen man Verhaltensänderungen erreichen kann. Um das gewohnheitsgesteuerte intuitive System zu beeinflussen, rät Dr. Ellrott zum Einüben neuer Rituale. „Früher hat man Menschen, die bei jedem Gang zur Toilette den Kühlschrank plündern, geraten, vor dem Kühlschrank immer erst eine Kerze anzuzünden.“ Der damit verbundene Moment des Innehaltens helfe, sich das eigene automatisierte Verhalten bewusst zu machen und zu steuern. „Heute kann man zum Beispiel mit Apps zur Selbstbeobachtung Zwischenschritte und Reflexion einbauen, wenn man sein Verhalten modifizieren möchte.“

Vetorecht gegenüber dem verfressenen Autopiloten

Der Vortrag hat mich zum Nachdenken gebracht. Wir Menschen sind also trotz aller Bildung und modernen Aufklärung immer noch ziemlich simpel gesteuert. Und eine wirklich einfache Formel, diese uralte Steuerung zu überlisten, hatten die beiden Wissenschaftler letztlich nicht parat. Immerhin kann ich den letzten Punkt aus meiner eigenen Erfahrung bestätigen: Dokumentation und Apps können einem unbedachtes Verhalten bewusst machen, sodass man ggf. noch rechtzeitig die Notbremse ziehen kann. Für mich hat allein mein Typ-1-Diabetes bereits einen gewissen erzieherischen Effekt: Da ich genau weiß, dass ein schneller (und ungesunder) Snack zwischendurch meinen Blutzucker nach oben treibt und Insulin erfordert, muss ich vorher innehalten. Glukosewert messen, Insulindosis berechnen, alles in die App eintragen… Das sind immerhin drei Arbeitsschritte, in denen mein langsamer Verstand die Chance hat, gegenüber dem verfressenen Autopiloten Veto einzulegen. Und auch das Kalorienzählen via App hilft dabei, wieder die Oberhand zu gewinnen: Wenn ich Lust auf einen Schokoriegel oder eine Tüte Chips habe und gleichzeitig sehe, dass dieser ungesunde Snack mir meine Tages-Kalorienbilanz gründlich verhagelt und ich mindestens 10.000 Schritte extra gehen müsste, um ihn zu kompensieren – dann vergeht mir oft die Lust und ich lasse es lieber bleiben. Welche Tipps habt ihr, um euren Autopiloten und seine spontane Lust auf ungesunde Essensentscheidungen auszutricksen?

Ein Kommentar zu “Warum greifen wir wider besseres Wissen zu Pommes statt Salat?

  1. Mal Hand auf’s Herz: Blickst Du wirklich durch, was heute als gesundes Essen gilt und warum? Gibt es nicht für jede Zusammensetzungs-Empfehlung, auch für die von DGE und DDG, jede Menge Studien, die genau diese als besonders risikobehaftet ausschließen? Also warum nicht mit beginnendem oder/und diagnosereifem Bluthochzucker in erster Linie nach dem Messer essen?

    Klar macht man da aus der Sicht der einen alles richtig und aus der Sicht der anderen alles falsch. Deswegen hab ich an die Stelle vom Glauben an die verschiedensten Wirkungen oder Nichtwirkungen nach einigen Irrläufen ganz bewusst zu meiner Orientierung meine ganz konkreten BZ-Werte gesetzt. Und immer, wenn ich so einen Wert in dem Rahmen messe (pp Spitze oder Bolusauslauf oder…), den ich jeweils erwartet habe, nehme ich das für einen Daumen hoch. Hab ich vor ganz vielen Jahren mal mit LC angefangen, als das noch gar nicht so hieß, und bald wieder dran gegeben, weil das als noch gefährlicher galt, als HBA1c 10 und mehr, und mach ich aber inzwischen wieder, und dazwischen auch mit gutem Erfolg und Geschmack mehrere Jahre LCHF und ebenso auch eins mit HCLF. Allerdings nur zum Ausprobieren, ob das Barnard-Konzept wirklich funktionieren kann. Bei mir hat es erstaunlich gut gekonnt, Tagesdosis wie mit LCHF, aber mir halt nicht so gut geschmeckt 🙁

    Viel gemeiner als mögliche Begrenzungen durch den Messer finde ich mit 72 Lenzen inzwischen die durch die Waage. Denn obwohl ich jeden Tag viel mehr Zeit zum Essen hab, als vor 30 oder 40 Jahren, sagt die mir schon bei der Hälfte der damaligen Portionen, dass sie damit heute munter ansteigen will 🙁

    Bisdann, Jürgen

    P.S.: Kann Fritten- oder Nutella-Vorliebe nicht auch genetisch bedingt sein?

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