Diabetes und Selbst-Mitgefühl

Schwankende Zuckerwerte und andere Diabetes-Komplikationen drücken manchmal ziemlich auf die Stimmung und plötzlich ist alles blöd: Die Krankheit, man selbst, die ganze Welt. Sara kennt diese Gefühle und hat beschlossen, sich diesen nicht mehr aussetzen zu wollen.

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Es ist mitten in der Nacht und morgen muss ich früh aufstehen. Es ist mitten in der Nacht und mein Blutzucker ist bei 335 mg/dl (18,6 mmol/l). Es ist mitten in der Nacht und ich frage mich, warum ich eigentlich noch Pizza esse – überhaupt. Besonders abends. Frage mich, warum ich nicht auf das Glas Rotwein verzichtet habe, wegen dessen ich jetzt Angst habe, in der Nacht dann doch zu unterzuckern, obwohl ich doch jetzt einen viel zu hohen Zuckerwert habe. Ich kenne mich, ich kenne meinen Diabetes. Ich weiß, wie es läuft. Und ich weiß, dass ich ziemlich blöd war, abends Pizza zu essen und Wein zu – STOPP.

STOPP, STOPP, STOPP

Nichts und niemand ist blöd. Besonders nicht ich. Nicht mal der Diabetes. Der ist einfach Diabetes, nicht mehr und nicht weniger. Mal gibt es hohe Zuckerwerte, mal gibt es niedrige Zuckerwerte. Mal gibt es Pizza, mal gibt es keine Pizza. So ist das (Diabetes-)Leben.

Quelle: Pixabay

In solchen Situation finden sich vermutlich viele von uns ab und zu wieder. Schnell passiert es, in Selbstvorwürfen zu versinken, was wir hätten besser machen können. Vorwürfe darüber, was wir alles hätten nicht machen sollen, und trotzdem haben wir es gemacht und jetzt haben wir den Salat. Wobei – Salat führt bei mir selten zu Vorwürfen. Aber Spaß beiseite. Es geht schnell, sich in das Labyrinth aus Selbstvorwürfen zu stürzen, und je tiefer man sich reinbegibt, desto schwerer ist es, dort wieder rauszukommen.

Das Fiese? Vorwürfe tarnen sich nicht immer direkt als Vorwürfe. Bei mir kann es von genereller schlechter Laune wegen schwankender Zuckerwerte über die unbewusste Vermeidung bestimmter Aktivitäten, die ich eigentlich total gerne mache, bis hin zu direkten Selbstvorwürfen wie „Das war dumm, abends Pizza zu essen.“ reichen. Es ist ein bunter Blumenstrauß aus Selbstvorwürfen, die aber selten zu irgendetwas führen, außer dass ich mich super schlecht fühle. Meist bringen mich die Selbstvorwürfe auch dichter an einen Wutbolus ran – und der hilft nun wahrlich niemandem.

Selbstvorwürfe vs. Selbst-Mitgefühl

Um mich aus dem Labyrinth der Selbstvorwürfe zu erlösen, versuche ich, möglichst viel Mitgefühl für mich selbst und meinen Diabetes zu entwickeln. Das deutsche Wort Selbst-Mitgefühl klingt hakelig, während für mich das Wort self-compassion im Englischen schon direkt viel weicher klingt. Nicht zu verwechseln ist für mich Selbst-Mitgefühl mit Selbst-Mitleid, wobei diese Unterscheidung für andere vielleicht schon zu tief geht. Für mich jedoch besteht der Unterschied besonders in der Art, wie ich mit etwas Negativem umgehe – und beim Selbst-Mitgefühl steigere ich mich im Vergleich zu Selbst-Mitleid nicht in das Geschehene hinein, sondern akzeptiere es viel mehr und blicke bewusst nach vorne, auf eine Zeit, in der sich auch wieder positive Gefühle einstellen. 

Klingt toll, aber wenn ich mir jetzt die Nacht um die Ohren haue, weil ich falsch gebolt habe, was meine Stimmung mies macht, weil mein Zuckerwert nicht runtergeht und wirklich alles blöd ist – was mache ich dann? 

DURCHATMEN. TIEF DURCHATMEN. 

Ich will hier wirklich nicht erzählen, dass es in meinem Leben keinen Wutbolus gibt oder dass ich auf einmal keine Pizza mehr verfluche. Was ich jedoch versuche zu beeinflussen, ist mein Umgang mit schwankenden Zuckerwerten, die ich eigentlich hätte vorher absehen können. Zu überlegen, ob die Menge Insulin jetzt richtig war für das Gegessene, muss ja nicht ausbleiben. Aber die Vorwürfe, die man sich bei Feststellen einer falschen Menge macht, können ausbleiben. Stattdessen hilft eine große Portion Akzeptanz.

Und wie genau übe ich mich in Selbst-Mitgefühl?

Am wichtigsten finde ich die Einsicht, dass wir alle nicht perfekt sind – und selbst, wenn wir es wären, wäre es unser Diabetes trotzdem nicht. Unsere Körper sind mit oder ohne Diabetes keine Maschinen und funktionieren nicht wie programmiert. Auch wenn uns das manches Diabetes-Lehrbuch mit zugehörigem Arzt vielleicht so vermitteln möchte. 🙂 

Wenn ich akzeptiere, dass meine Werte, genauso wie andere Dinge, die mit mir und meinem Körper zu tun haben, schwanken können und ich die Kontrolle nie zu 100% habe, lebt es sich wesentlich leichter. Aber dieses Loslassen zu lernen, braucht Zeit – bei mir jedenfalls. 

Quelle: Pixabay

In Situationen, in denen ich merke, dass es mir schwerfällt, zu hohe oder zu niedrige Zuckerwerte, starke Schwankungen oder generelles Chaos zu akzeptieren, hilft mir Folgendes: 

  • hinsetzen und durchatmen,
  • sachlich überlegen, wie viel Insulin noch wirksam im Körper ist oder wann ich das letzte Mal Kohlenhydrate gegessen habe,
  • entsprechend dem aktiven Insulin oder verzehrten Kohlenhydraten handeln: essen oder nicht essen, spritzen oder nicht spritzen,
  • selbstverständlich gehört auch besonders bei zu hohen Werten ein Katheter-/Insulin-Check dazu,
  • Dinge passieren lassen, ohne mir später dafür Vorwürfe zu machen, sei es ein Wutbolus oder ein Glas Saft zu viel,

und dann ist das Thema für mich erledigt. Ich versuche, bis zur nächsten Benachrichtigung meines CGM-Systems die Gedanken an zu hohe Werte zu verscheuchen, und lenke mich mit einem Buch ab. Noch viel besser ist ein Spaziergang, da er bei mir die Insulinempfindlichkeit steigert. Wenn ich eine frustrierend lange „Hypo“ habe, lege ich mich mit meinem Lieblings-Hörbuch aufs Sofa.

Es wird wieder besser werden!

Es bringt nichts, sich den Kopf zu zerbrechen, warum es jetzt so ist, wie es ist, und auch, wenn jemand schuld ist, ist der Zucker nicht augenblicklich perfekt. Ich versuche, meine Gedanken darauf zu fokussieren, dass es auch wieder vorbeigeht. Und in jedem Moment meines Lebens kümmere ich mich so gut um meinen Diabetes, wie es in diesem Moment eben geht. Dies kann durchaus von einer zur anderen Sekunde schwanken und je nach Moment unterschiedlich sein. In jede Situation in meinem Leben bringe ich unterschiedliche mentale Ressourcen mit. Ein zu hoher oder zu niedriger Wert sagt nichts darüber aus, ob ich mich gut um meinen Diabetes kümmere.

Mich mit allen Höhen und Tiefen zu akzeptieren und nach vorne zu schauen, das ist für mich Selbst-Mitgefühl. Nicht nur, wenn es um Diabetes geht, aber es ist ein guter Start.


Über die verschiedenen Gefühle und Gedanken, die das Leben mit Diabetes in einem auslösen kann, hat auch Ina geschrieben: Diagnose Diabetes – „schlechte“ Gefühle erlaubt?

2 Kommentare zu “Diabetes und Selbst-Mitgefühl

  1. Liebe Sara, danke für den schönen Artikel. Ja, self-compassion ist auf jeden Fall oft dringend notwendig. Für mich gehört es aber auch zum Selbst-Mitgefühl, solche Stolperfallen einfach zu umgehen. Ich bin mittlerweile der Ansicht, dass fast keine Pizza so gut schmeckt, dass sie anschliessend diese Blutzucker-Achterbahn rechtfertigt.

    Man darf sich aber auch mit dem Selbst-Mitgefühl nicht selbst übertölpeln: wissen, dass mit Pizza quasi je-des-mal alles aus dem Ruder gerät und sich dann wieder trösten ist nicht ganz korrekt. Lieber über diese Stolperfalle drüberhüpfen, sich einen irre-guten Quinoa-Salat bauen und halt zwei Gläser Rotwein dazu trinken :-).
    Herzlich, Carla

  2. Vielen Dank Sara,

    komme gerade vom Blumen säen. Habe mich im Strassenverkehr aufgeregt, dass mich jemand fast vom Fahrrad geworfen hätte. ; )

    Nun habe ich Dank Deiner Seite und der geschriebenen Worte mich wieder
    an das Blumen säen wieder erinnern können.

    Liebe Grüsse und eine gute Zeit,

    Nico

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