Bin ich schuld?

Ein Beitrag der BSL-Autorin Michelle regte auf den sozialen Medien zu einem intensiven Meinungsaustausch an. Und auch Nathalie hat in den Kommentaren klar Stellung dazu bezogen. Die Aufklärungsarbeit liegt ihr selbst sehr am Herzen und auch das Thema der Schuldzuweisung geht nicht spurlos an ihr vorbei. In diesem Artikel möchte sie ihre Gedanken mit euch teilen, die aus diesem Diskurs hervorgegangen sind.

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Disclaimer: Vorab möchte ich klarstellen, dass ich mit diesem Beitrag niemanden angreifen möchte. Jeder Mensch hat eine eigene Meinung und Sicht der Dinge. Allerdings stieß ich vor kurzem auf ein Statement, welchem ich ganz und gar nicht zustimme und hierzu gerne meine Gedanken teilen möchte. Da mir dieses Thema persönlich nahegeht und ich weiß, dass es für viele Menschen mit Diabetes ebenfalls nicht leicht ist, mit der Erkrankung zu leben und der Stigmatisierung umzugehen.

Der Grund, weshalb ich mich mit dem Thema der Schuldzuweisung in den vergangenen Tagen intensiver auseinandergesetzt habe, ist der Blood-Sugar-Lounge-Beitrag von Michelle. Angeteasert wurde dieser mit dem Zitat: „Ich glaube, wir Menschen mit Diabetes tragen eine Mitschuld an dem Unwissen der anderen.“ Und auch der Text in der Beitragsbeschreibung verdeutlichte, dass laut Michelle Menschen mit Diabetes mit Schuld daran sind, dass sie immer mit Vorurteilen und Halbwissen konfrontiert werden. Diese Aussage ist meiner Meinung nach sehr gefährlich und schlichtweg falsch.

Auszug aus Michelles Beitrag im Juni. Quelle: Facebook, Blood Sugar Lounge

Das Thema und vor allem auch der Austausch dazu mit anderen Menschen mit Diabetes berührt mich beides sehr. Wieso? Ich selbst erhielt die Diagnose ziemlich spät (mit 23 Jahren, 2018) und war davor einer dieser unwissenden Menschen, gefüllt mit Vorurteilen zur Erkrankung „Diabetes mellitus“. Woher kamen diese Vorurteile? Eins kann ich euch versichern: NICHT von Menschen, die selbst mit dieser Krankheit leben.

Woher kommen Vorurteile wirklich?

Ich denke, dass die Antwort auf diese Frage relativ klar ist. Immer wieder müssen wir Kommentare wie „Davon bekommt man ja Diabetes!“ lesen, bekommen nur das Bild vom dicken, alten Menschen mit Typ-2-Diabetes vermittelt und hören Aussagen wie „Du bist viel zu jung, um Diabetes zu bekommen“. Ich erinnere mich auch an ein Posting der Bundesregierung zum Weltdiabetestag im Jahr 2019. Dort wurde ausschließlich von der „Volkskrankheit Diabetes“ gesprochen und in keinem Satz erwähnt, dass es zig verschiedene Typen gibt, die meist nur mit demselben Organ und Hormon zu tun haben.

Leider sind solche Artikel, Postings, Berichte oft auch in der Perspektive eines Vorwurfes geschrieben. Anstatt präventiv zu formulieren, wird direkt mit Stigma, Vorurteilen und „mit dem Finger auf jemanden zeigen“ gearbeitet. Dass eine Erkrankung wie der Diabetes mellitus so immer mehr als negativ beurteilt und das Krankheitsbild je nachdem auch mit Fehlinformationen verbunden wird, wundert mich nicht mehr.

Also, kann ich dann mit dieser Ausgangssituation erwarten, dass mein Umfeld perfekt und richtig aufgeklärt ist? Nein. Sind daran die Menschen, die mit der Krankheit leben, schuld? Nein. Denn genau diese Menschen sind meist diejenigen, die unermüdlich über das Krankheitsbild aufklären.

Posting der Bundesregierung zum 14.11.2019 Quelle: Bundesregierung, 2019. https://www.facebook.com/Bundesregierung/photos/a.769938079764597/2584651884959865

Was bedeutet „Schuld“?

Ich persönlich empfinde das Wort „Schuld“ als sehr starkes, schweres Wort. Habe ich Schuld an etwas, so bedeutet es für mich, dass ich irgendetwas verbockt habe – Fehlverhalten, Regelbruch, Konsequenzen.

Aber mal die Subjektivität beiseite. Was bedeutet „Schuld“ eigentlich? In der Ethik wird der Begriff (unter anderem) als Verstoß gegen eine geltende Norm, Recht oder eine Regel definiert. Durch diesen Verstoß macht man sich selbst somit schuldig.

Nun frage ich mich: Kam mit der Diagnose eine Regel, die besagt, dass ich mein Umfeld aufklären muss? Ich denke, das kann man vorerst verneinen. Allerdings finde ich es sehr wichtig, dass mein näheres Umfeld, also Mitbewohner*innen, Familienmitglieder, Partner*innen usw., wissen, was im Notfall zu tun ist. Ich finde, dafür muss zunächst auch gar keine umfängliche Aufklärung über die Krankheit im Allgemeinen stattfinden. Die kurze Schulung zum Notfallmedikament und der Hinweis, dass man mir in einer Unterzuckerung doch bitte kein Insulin spritzen soll, genügen hier.

Nathalies Diabetes Tasche – immer dabei: Notfallmedikamente (Quelle: Nathalie Bauer)

Kleiner Tipp: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Gegenüber meist hellhörig werden, sobald sie das Wort „Notfallmedikament“ hören. Auch wenn davor vielleicht über den Diabetes gespaßt wurde oder der ein oder andere unpassende Kommentar kam. Sobald man die Gefahr und die Dringlichkeit des sofortigen Handelns bei einer schweren Unterzuckerung betont, vergeht den meisten direkt der Spaß und sie hören zu.

Im zweiten Teil dieser Beitragsreihe möchte ich gerne näher darauf eingehen, wer denn aus meiner Sicht nun wirklich „Schuld“ an Vorurteilen und Fehl- bzw. Halbwissen hat. Ich möchte aber auch berichten, wie ich als Mensch mit Diabetes damit umgehe und vielleicht auch etwas daran ändern kann. Ebenso, was Außenstehende, also Menschen ohne Diabetes, tun oder daraus lernen können.

7 Kommentare zu “Bin ich schuld?

  1. Ich bin so ein Volkskranker, Ü70 mit Diabetes Typ 2.

    Und ich bin Schuld daran, dass ich für meinen gesunden BZ heute zum LC-Essen auch noch 40-50 IE Insulin pro Tag brauche. Da wäscht mich kein Wasser von ab.

    Mit der Gesamtheit meines alltäglichen Verhaltens habe ich in den 80ger Jahren des vorigen Jahrhunderts dafür gesorgt, dass mein alltäglicher BZ-Verlauf allmählich immer höher anstieg. Keine Ahnung, was ich dafür gemacht hab, aber Nichtwissen schützt nicht vor Schuld.
    Im Nachhinein war’s vielleicht die über Jahre wiederholte hohe Dosierung vom damals(!) tollen neuen Heuschnupfen-Mittel Cortison, aber die hätte ich mir ja nicht verpassen lassen müssen. Hab ich aber und bin damit Schuld.
    Anfang 91 wurde mein T2 schließlich diagnostiziert. HbA1c 15und, Nüchternzucker 400und. Die Werte hatte ich bis dahin nicht gekannt. Aber ich hatte sie doch schließlich alleine produziert und war damit ganz eindeutig Schuld daran.

    Im Sommer 91 hatte ich wieder morgens nüchtern völlig ohne Medis 80-90 und ein HbA1c unter 6, und auch daran war ich selbstverständlich Schuld. Denn ich hatte von Februar an immer gezielter nach dem BZ-Messer LC gegessen.
    Dann habe ich mir von allen behandelnden Ärzten (damals hatte ich in meiner einzigen Niere einen Stau, der in der OP beseitigt werden musste) einreden lassen, dass nüchtern unter 100 mg/dl für jemanden mit Typ 2 völlig ungesund und HbA1c um 7 das gesündest mögliche sei. Natürlich war meine Schuld, dass ich mich von denen habe bequatschen lassen. Und meine Schuld war auch, dass ich bis Weihnachten 91 meine vollständige Remission wieder vollständig aufgefressen hatte.

    Selbstverständlich war meine Umstellung von Sulfonylharnstoff auf ICT in 98 meine Schuld. Schuld auch an den gesamt um 140 IE pro Tag für die wenigstens 12 BEs nach Doctor’s Orders, denn ich hab mich ja danach gerichtet.
    Meine völlig alleinige Schuld und gegen jeden ärztlichen Rat schließlich nach der Jahrtausendwende meine Absenkung meines BZ-Rahmens auf HbA1c um 5 mit nur noch 80-90 IE gesamt pro Tag bei LC auf dem Teller.
    Und noch einmal völlig meine Schuld und gegen jeden ärztlichen Rat meine Leberentfettung von 8 Jahren nach Taylor mit VLCD (Very Low Caloric Diet). Mit 600-800 kcal Tag brauchte ich von einem Tag auf den anderen nach 1 Woche statt 40 nur noch 10 IE Basal. Hatte ich verbrochen, war meine Schuld.

    Hab dann die VLCD noch einige Wochen verlängert und vergleichsweise einfach 25 kg abgeschmolzen, aber mein Insulinbedarf pro BE und auch Basal hat sich damit entgegen der fachoffiziellen Ansagen in keiner messbaren Weise weiter verringert. Also auch wieder meine Schuld, oder?

    1. Hi,
      Ich gehe mal davon aus, dass du meinen Beitrag nicht gelesen hast?
      Darin geht es nämlich in keiner Weise darum, ob ich Schuld am Diabetes habe. Sondern um (falsche) Vorurteile und wie diese durch die Medien geprägt und Fehlinformationen gestreut werden.

      LG
      Nathalie

  2. “…bekommen nur das Bild vom dicken, alten Menschen mit Typ-2-Diabetes vermittelt und hören Aussagen wie „Du bist viel zu jung, um Diabetes zu bekommen“. Ich erinnere mich auch an ein Posting der Bundesregierung zum Weltdiabetestag im Jahr 2019. Dort wurde ausschließlich von der „Volkskrankheit Diabetes“ gesprochen und in keinem Satz erwähnt, dass es zig verschiedene Typen gibt, die meist nur mit demselben Organ und Hormon zu tun haben.”
    Hast Du da oben also nicht geschrieben?

    1. Natürlich habe ich das geschrieben. Ich verstehe aber nicht, was mein Beitrag (und dieser Textauszug) mit deiner Aussage zu tun hat. Ich habe nirgends erwähnt wer an welchem Diabetes Typ schuld sei. Darum geht es einfach nicht.

      Es geht um die Verbreitung von falschen Informationen und/oder nur begrenzten Wissen. Es geht darum, dass alle Diabetes Typen oft von Laien (Medien) in einen Topf geschmissen werden. Es geht darum, dass manche Menschen der Auffassung seien, ich als Mensch mit Diabetes sei selbst schuld daran, dass zB mein Bruder nichts über Diabetes weiß.

      Daher der Hinweis, dass deine Fragen bzw. Aussagen, dass du selbst schuld an deinem Krankheitsverlauf seist, nichts mit der Aussage meines Beitrages haben. Ich möchte nämlich niemanden für seine eigene Erkrankung beschuldigen – dafür gibt es leider viel zu viele, individuelle Auslöser und Krankheitsverläufe.

  3. “bekommen nur das Bild vom dicken alten ….” was auf mich ja nicht zutrifft, impliziert für mich Deine Darstellung, weil Du ja Typ 1 hast.

    Du magst das ja nicht so beabsichtigt haben, aber wenn Du mal mit etwas Abstand versuchst, Deinen Beitrag mit den Augen eines Menschen mit Typ 2 zu lesen, wird Dir auffallen, dass es einige Mühe macht, darin nicht auf Anhieb den dicken dummen Typ 2 zu sehen, mit dem Du nicht in einen Topf geworfen werden möchtest.

    Ich gestehe Dir zu, dass Du etwas anderes vermitteln wolltest, aber die Art der Darstellung perpetuiert den Typ 2 Stereotyp.

    Damit sehe ich Dich übrigens in guter Gesellschaft. Denn so sehe ich die Mehrzahl aller Darstellungen in der Lounge – nicht zuletzt mit dem attraktiven Portrait der Fettlöserin 😉

    1. Lieber Jürgen,

      ich glaube wirklich, dass du meinen Beitrag komplett falsch verstehst.
      Es geht mir unter anderem darum, dass vor allem Menschen mit Typ 2 Diabetes sehr viel Diskriminierung erfahren. Oftmals leider auch nicht ernst genommen werden, weil es leider viel zu schnell heißt “Nimm ab, dann wirst du wieder gesund.” Dabei wird nicht zu selten eine ernst zunehmende Krankheit verharmlost oder sogar nicht erkannt/diagnostiziert.

      Mit dem Satz “… bekommen nur das Bild vom dicken, alten Menschen mit Typ-2-Diabetes vermittelt und hören Aussagen wie „Du bist viel zu jung, um Diabetes zu bekommen“. möchte ich vermitteln, dass es nicht in Ordnung ist, den Typ 2 Diabetes mit so einem Bild ABZUSTEMPELN. Diabetes kommt in vielen Größen, Gewichts- und Altersangaben. Es geht mir (ich wiederhole mich) um die Stereotypisierung.
      Wenn du dich selbst als den “alten, dicken, Typ 2” identifizierst, dann möchte ich damit nicht dich angreifen sondern dafür argumentieren, dass du nicht auf diesen klassischen Stereotyp reduziert wirst.

      Es geht NICHT darum, dass ich es nicht okay finde mit Typ 2 verglichen zu werden. Es geht mir darum, dass ich es nicht in Ordnung finde, wie EGAL WELCHER TYP immer direkt mit Vorurteilen und Stereotypen beworfen und verurteilt wird.

      Und wenn du dich nur ein klein wenig mit meiner (Aufklärungs-) Arbeit auseinander setzt, wirst du schnell merken, dass ich weder den Typ 1 “über” die anderen Typen stellen, noch mich besser darstellen und von den anderen abgrenzen möchte.

      Ich beende hiermit dieses Gespräch meinerseits.
      Denn ich habe mir nichts vorzuwerfen, ich würde jemanden diskriminieren. Ganz im Gegenteil, setze ich mich täglich (!!!) dafür ein, dass Menschen nicht auf eine Diagnose oder ihr Aussehen reduziert werden.

      Liebe Grüße aus Südkorea
      Nathalie

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