Wenn alle Menschen Diabetes hätten…

Lasst uns heute mal in die Zukunft schauen. Und eine Frage stellen: Wie wäre das eigentlich, wenn die meisten Menschen Diabetes hätten? So ein Unsinn? Keineswegs – so abwegig ist das nämlich gar nicht.

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Motivation monatlich_9
Quelle: Christian Purschke
Schon aus beruflichen Gründen lese ich ja sehr viel zum Thema Diabetes. Täglich bekomme ich News und Trends auf den Tisch, was sehr interessant ist und mich auch in meiner Arbeit weiterbringt. In den letzten Tagen waren allerdings ein paar Meldungen darunter, die mich wirklich nachdenklich gemacht haben. Da ist zum einen die Meldung, dass inzwischen 12% aller erwachsenen US-Amerikaner einen Diabetes haben und weitere 38% einen Prädiabetes, also die Vorstufe. Man muss dazu sagen, dass nicht alle Menschen mit Prädiabetes auch tatsächlich einmal Diabetiker werden, aber die Chance ist hoch. Das bedeutet, dass die Hälfte aller erwachsenen US-Amerikaner entweder einen Diabetes hat oder mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe des Lebens einen bekommen wird. Ist das krass? Ich finde schon. Aus meiner Sicht wäre das glatt eine reißerische Titelseite in der Zeitung mit den großen Buchstaben wert (auch wenn kaum jemand zugibt, sie zu lesen).

Ein Blutzucker-Messgerät auf jedem Esstisch?

Wenn ich das lese, höre ich auf, uns Diabetiker als Minderheit zu betrachten, und frage mich, wie eine Welt aussähe, in der Diabetes einfach zum Leben dazugehört und nichts „Besonderes“ mehr ist. Wäre dann Insulin im Lieferumfang jedes Mittagsmenüs enthalten? Läge ein BlutzuckerMessgerät auf jedem Esstisch? Weiter ging es mit der Meldung, dass die Freie Waldorfschule Dinslaken einem kleinen Mädchen die Aufnahme verweigerte, weil die Schulleitung sich außer Stande sieht, eine optimale medizinische Betreuung zu gewährleisten. Natürlich sorgt diese Schlagzeile zunächst für Unverständnis, fairerweise müsste man für eine Bewertung tiefer in die beiderseitige Argumentation einsteigen. Darum geht es hier aber gar nicht – vielmehr frage ich mich, wie die Welt aussehen wird, wenn auch das Wachstum der Diabetesquote bei Kindern so weitergeht wie prognostiziert? Wir wissen heute, dass auch immer mehr junge Menschen an Typ-2-Diabetes erkranken, ganz abgesehen von den Kindern, die schon in jüngsten Jahren den Typ-1-Diabetes an die Backe bekommen haben.

Diabetes als Schulfach?

Hätte dann endlich jedes diabetische Kind ein Recht auf eine geschulte Betreuung? Würden dann an jeder Kita und jeder Schule ausgebildete Diabetes-Experten arbeiten, so alltäglich, wie es inzwischen ein Recht auf einen Kita-Platz für jedes Kind ab dem ersten Geburtstag gibt? Oder würde sich jeder ohnehin so gut mit Diabetes auskennen, dass das kein Problem mehr wäre, da sowieso jeder Mensch schon in der Grundschule ein Jahr lang das Schulfach Diabetologie belegen müsste? Das klingt alles so weit hergeholt, aber Fakt ist, dass Diabetes sich in unserer Zivilisation immer mehr ausbreitet und damit zwangsläufig auch immer mehr zum Alltagsthema wird. Bei meinen Vorträgen frage ich gerne das Publikum, wer schon einmal in irgendeiner Form Kontakt mit dem Thema hatte. Es melden sich eigentlich immer fast alle. Und dann stellt sich mir automatisch die Frage, ob die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden schneller ginge, wenn es mehr von uns gäbe. Die Behauptung, dass viele neue Ideen nicht umgesetzt werden, weil an den bestehenden Methoden so gut verdient wird, lässt sich nur schwer widerlegen. Fakt ist, dass wir seit Jahren vom „Closed Loop“ sprechen, von neuen Blutzucker-Messmethoden und der Abkehr vom täglichen Piks. Und was passiert? Wir haben inzwischen das FreeStyle Libre, der Hersteller kommt mit der Produktion kaum nach und die Diabetes-Welt schreit nach bezahlbaren CGMs und besseren Pumpen. Aber während Computer rasant schneller, kleiner, leichter und billiger werden, tut sich auf dem Sektor Diabetes herzlich wenig. Ein Schelm, wer Böses unterstellt.

Wäre es eventuell gut für uns, wenn es mehr von uns gäbe?

In diesem Moment flattert noch so eine Schlagzeile in mein Postfach: Der sechsjährige Sohn von Fußballer Arturo Vidal, seines Zeichens Typ-1-Diabetiker, unterzieht sich in Italien einer „neuartigen“ Behandlung. Zu Deutsch: Er bekommt eine künstliche Bauchspeicheldrüse. Mehrere Diabetes-Zentren in Italien arbeiten zusammen, um das Thema voranzutreiben. Das ist eine tolle Meldung, die zeigt, dass sich etwas tut, dass man sich Gedanken macht und dass es sich lohnt, die Hoffnung nicht aufzugeben. Wenn es mehr von uns gäbe, würden dann künstliche Bauchspeicheldrüsen so alltäglich eingepflanzt wie Knie- und Hüftgelenke? Wären solche Behandlungen dann Kassenleistung ohne Diskussion und aufwändige Tagebücher? Und wüssten dann viel mehr Menschen, dass Typ-1-Diabetiker alles essen dürfen? Man mag diese Fragen für unmoralisch halten. Und ich möchte ganz klarstellen, dass ich sicherlich keinem Menschen den Diabetes wünsche. Aber in einer Welt, in der Diabetes immer alltäglicher wird, in der wir aber nach wie vor (oder mehr denn je) darum kämpfen müssen, die nötigen Hilfsmittel und die entsprechende Anerkennung zu bekommen, muss es auch erlaubt sein, einfach mal weiter zu denken und sich so seine Gedanken zu machen. Oder etwa nicht?
Hier kommt ihr zum nächsten Teil von Christians „Motivation monatlich“: Einstellungssache: Diabetes und Bewusstsein

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