„Brief an mein jüngeres Ich“: Brainstorming beim Diabetes-Barcamp

Stell dir einmal vor, du solltest einen Brief an dein jüngeres Ich schreiben, in dem du ihm mit deinem Wissen von heute Ratschläge für den Umgang mit dem Diabetes und dem Leben überhaupt gibst. Was würdest du dir selbst schreiben? Dies ist die Projektidee, die Antje beim Diabetes-Barcamp in Frankfurt vorstellte und die zum Glück auf sehr positives Feedback stieß.

Weiterlesen...

Das erste Diabetes-Barcamp ist nun schon ein paar Tage her, und etliche andere Blogger waren sehr fix und haben schon begeistert darüber berichtet, in der Blood Sugar Lounge zum Beispiel Kathi, Basti und Michi in ihrem Video, Nadja in ihrem Textbeitrag und auf den Diabetesblogs zum Beispiel Lisa, Steffi oder Tine. Ich fand das Diabetes-Barcamp ebenfalls große Klasse. Möglicherweise wurde dort mein nächstes größeres Projekt geboren – und ich würde mich riesig freuen, wenn etliche Leserinnen und Leser dabei mitmachen würden. Um was geht es dabei?

Zurückdenken an Momente der Angst, Verzweiflung und Scham

Als ich im September den Kongress der europäischen Diabetesgesellschaft EASD in Lissabon besuchte, entdeckte ich in der Industrieausstellung am Stand von Novo Nordisk ein tolles Büchlein. Es ist in englischer Sprache abgefasst, heißt „In your own words – Reflections on living with diabetes“ und enthält kurze Portraits und Briefe von Menschen mit Typ-2-Diabetes an ihr jüngeres Ich, in denen sie sich selbst Ratschläge für einen besonders kritischen Moment in ihrer „Diabeteskarriere“ geben. Für alle Menschen in dem kleinen Buch war dies der Moment, als sie erstmals Insulin spritzen mussten. Denn das war der Moment, als es „so richtig ernst wurde“ mit der Erkrankung. Der Moment, an dem man sich vor ihr endgültig nicht mehr verstecken kann. Die portraitierten Briefeschreiber erinnerten sich also an diesen kritischen Moment, an ihre Verzweiflung, Angst oder Scham. Und sie schrieben diesem jüngeren Ich Briefe, in denen sie auf ihre Gefühle und Sorgen von damals eingehen. Einer schrieb sich selbst in seinem Brief, dass es keinen Grund gibt, sich vor Nadeln und Injektionen zu fürchten. Eine andere schrieb sich selbst, dass sie keine Schuldgefühle wegen ihres Diabetes haben muss. Ganz viele Briefe handelten davon, dass man die Erkrankung akzeptieren muss, um gut damit zu leben. Ebenso viele Briefe handelten davon, dass man auch nachsichtig mit sich selbst sein und nicht so furchtbar perfektionistische Erwartungen an sich selbst stellen sollte. Man kann die Portraits und die dazugehörigen Briefe auch vollständig online nachlesen.  Ein wunderschönes und sehr berührendes Projekt, wie ich finde.

Welche Gedanken würde ich in einem Brief an mein jüngeres Ich aufschreiben?

Mir stellte sich beim Lesen gleich die Frage: Was für einen Brief würde ich mir selbst schreiben, wenn ich an meine Diabetes-Diagnose zurückdenke? Welche Ratschläge würde ich mir selbst mit meinem heutigen Wissen mit auf den Weg geben wollen? Und gleich danach überlegte ich: Vielleicht haben andere Menschen mit Diabetes ja auch Gedanken, die sie gern einmal in einem Brief an ihr jüngeres Ich aufschreiben würden? Was wissen wir heute, das uns damals an Wissen oder Verständnis gefehlt hat? Ich fand: Das ist ein perfektes Thema für das Diabetes-Barcamp, über das ich mich einmal mit anderen Menschen unterhalten möchte! Und wer weiß – vielleicht ergibt sich aus dem Brainstorming ja tatsächlich etwas Konkretes und wir schieben das Projekt gemeinsam an? Ein Buch mit Portraits und Briefen von Menschen mit Diabetes (Typ 1 oder Typ 2, das wäre mir in diesem Fall völlig egal) an ihr jüngeres Ich? Zum Glück fanden eine ganze Reihe anderer meine Projektidee auch spannend, sodass wir uns mit insgesamt 14 Leuten in einer sehr netten Runde wiederfanden und uns über unsere Erinnerungen austauschten.

„Hätte ich das damals schon begriffen, wäre manches leichter gewesen!“

Wir stellten fest: Auch bei uns hat sich im Laufe der Zeit das Bild gewandelt, das wir selbst von unserer Erkrankung und unserem Umgang damit haben. Rückblickend denkt man sich oft: „Ach, hätte ich das damals schon gewusst, dann wäre manches leichter für mich gewesen…“ Eine Teilnehmerin erinnerte sich zum Beispiel daran, dass sie lange fälschlicherweise als Typ-2-Diabetikerin eingestuft und behandelt wurde, obwohl sie Typ-1-Diabetes hat. Sie erzählte von dem Misstrauen, das sie infolge dieser Fehlbehandlung lange gegenüber Ärzten hegte. Und sie sagte: „Ich würde meinem jüngeren Ich raten, den Ärzten gegenüber nicht lockerzulassen, wenn ich ein ungutes Gefühl bei der Behandlung habe.“ Wenn ich auf meine eigene Diagnose, im Jahr 2010 im Alter von 40 Jahren, zurückblicke, dann denke ich daran, dass ich damals als Alleinerziehende besonders stolz darauf war, dass ich finanziell und in meiner Lebensplanung unabhängig war. Dass ich von niemand Hilfe brauchte. Eine chronische Erkrankung, die mich möglicherweise verletzlich, hilfebedürftig und weniger leistungsfähig machen kann, passte überhaupt nicht in mein Selbstbild. Ich war enttäuscht von meinem Körper, den ich doch eigentlich immer gut behandelt hatte. In einem Brief an mein jüngeres Ich würde ich mir selbst schreiben, dass es keine Schande ist, auch mal Hilfe zu benötigen und einen Körper mit ein paar Schwachpunkten zu haben. Dass mein Körper immer noch viel Erstaunliches hinkriegt – zum Beispiel einen Triathlon, den ich mir vor meiner Diagnose nie im Leben zugetraut hätte. Ich würde mir schreiben, dass so eine beschissene Krankheit manchmal auch ein guter Seismograph ist. Sie sagt einem manchmal recht deutlich, wann es Zeit ist, etwas kürzer zu treten.

Wir fanden alle: Damals hätte uns ein bisschen mehr Gelassenheit gutgetan

Alle miteinander fanden wir übrigens rückblickend, dass uns ein bisschen mehr Gelassenheit gut getan hätte. Gelassenheit, wenn mal ein Blutzuckerwert aus der Reihe tanzt, oder bei blöden Sprüchen unwissender Mitmenschen. Und wir waren uns einig: Wenn man diese Gedanken öffentlich macht, helfen sie vielleicht anderen, die gerade am Beginn ihrer Reise durch das Diabetes-Universum sind. Und sie helfen Außenstehenden, die keinen Diabetes haben, uns besser zu verstehen. Mit dem Format als Büchlein mit einer begleitenden Website konnten sich alle anfreunden. Und so beschlossen wir, das Ganze einfach anzugehen und Geschichten zu sammeln.

Hast du Lust mitzumachen? Dann schreib mir deine Geschichte!

Wenn du nach diesem Beitrag Lust bekommen hast, an dem Projekt mitzuwirken, dann schlage ich vor, dass du dir die Website mit den englischsprachigen Portraits und Briefen einmal anschaust und mir dann schreibst. Am besten mit ein paar Stichpunkten zu deiner Person und deiner Geschichte:
  • Wer bist du? Wie alt bist du? Seit wann hast du Diabetes? Welchen Diabetestyp?
  • Was war für dich in der Vergangenheit ein besonders schwieriger Moment mit dem Diabetes? (Umstellung auf Insulin, schwere Hypoglykämie, Folgeschäden, familiäre Schwierigkeiten, oder etwas ganz anderes – was war ein Moment, wo du dir Rat von einem Erfahrenen gewünscht hättest?)
  • Was würdest du dir selbst für Ratschläge und Gedanken mit auf den Weg geben, wenn du an diesen schwierigen Moment zurückdenkst?
Deine Geschichte und dein Brief müssen noch nicht perfekt ausformuliert sein. Ich bin einfach neugierig, wie es anderen Menschen ergangen ist und was sie rückblickend über die Dinge denken, die ihnen widerfahren. Genau deshalb schreibe ich als Journalistin am allerliebsten Portraits. Gemeinsam mit dem Kirchheim-Verlag (der ja auch hinter der Blood Sugar Lounge steht) und/oder Novo Nordisk werde ich dann schauen, wie die Resonanz auf diese Projektidee ist und wie wir eine deutsche Version des englischsprachigen Büchleins „In your own words – Reflections on living with diabetes“ realisieren könnten. Bist du dabei? Dann schreib mir unter info@antje-thiel.de. Ich freue mich auf deine Geschichte!

Schreibe einen Kommentar