MiniMed 670G: Kontrolle abgeben – Fluch oder Segen? (3/3)

Susanne testet aktuell die neue MiniMed 670G von Medtronic – die erste kommerziell zugelassene Insulinpumpe, die einen Hybrid-AID (AID – automated insulin delivery, oft auch bezeichnet als Closed Loop) bietet. Susanne hat viele Fragen dazu, die sie Dr. Andreas Thomas (Scientific and Therapy Development Manager) und Marianne Finke (Senior Training & Education Specialist – und selbst Typ-1-Diabetikerin) von Medtronic gestellt hat.

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Ihr bezeichnet die MiniMed 670G als Meilenstein in der Insulinpumpentherapie. Warum?

Dr. Andreas Thomas: Das ist die erste Pumpe, bei der die Glukosesensoren die Insulinabgabe teilweise selbstständig regulieren. Wir hatten bereits bei der MiniMed 640G einen Algorithmus, der die Insulinzufuhr bei einer drohenden Hypoglykämie unterbrochen hat. Aber jetzt liefert erstmalig ein Glukosesensor Daten, die einen Algorithmus dazu befähigen, eine Insulinabgabe zu berechnen und diese zu realisieren. Ich habe meine ersten Closed-Loop-Versuche bereits Ende der 1990er gemacht – für mich schließt sich damit der Kreis und es macht mich glücklich, heute erleben zu dürfen, dass unsere Hilfsmittel Patienten ganz real zugutekommen.

Mit der Pumpe können „Times in Range“ (TIR) im Bereich von 80 bis 90 Prozent erreicht werden. Wie ist das eigentlich bei Nicht-Diabetikern: Sind die zu 100 Prozent im Zielbereich mit ihrem Blutzucker?

Andreas: In CGM-Kurven von Menschen ohne Diabetes findet man fünf bis acht Prozent Werte unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l). Junge Nicht-Diabetiker kommen nach kräftigen Mahlzeiten auf bis zu 130 mg/dl (7,2 mmol/l), ab einem Alter von 50, 60 Jahren kommen auch mal Werte um 160 mg/dl (8,9 mmol/l) als maximale Obergrenze zustande. Übertragen auf Diabetes-Patienten ist ein Zielbereich von 70 bis 180 mg/dl (3,9 bis 10,0 mmol/l) sinnvoll und realistisch.

Dr. Andreas Thomas
Quelle: Medtronic

Bei der 670G muss man Kontrolle abgeben. Für welche Diabetestypen ist denn die MiniMed 670G am meisten geeignet?

Marianne Finke: Grundsätzlich ist das System für alle Typ-1-Diabetiker geeignet – ab einem Alter von sieben Jahren und einer Tagesinsulingesamtmenge von acht Insulineinheiten. Einerseits unterstützt die MiniMed 670G diejenigen, die sich sehr mit ihrem Diabetes beschäftigen, klinisch orientiert sind und an einer sehr guten Glukoseeinstellung interessiert sind – trotz stressigen Alltags –, und andererseits die, die nicht wollen, dass ihr Leben vom Diabetes bestimmt wird, und trotzdem eine gute BZ-Einstellung anstreben. Am ehesten gewöhnen sich ehemalige ICTler an das komplette System inklusive Automodus. Für diejenigen, die vorher schon eine Pumpentherapie durchgeführt und sich alle Funktionen wie temporäre Basalrate oder Dualbolus angeeignet haben, ist es etwas herausfordernder, weil sie Dinge „verlernen“ müssen, um sich mit dem System anzufreunden. Und grundsätzlich muss der Anwender bereit und fähig sein, die Grundlagen der Insulinpumpentherapie durchzuführen – also Blutzucker zu messen, Katheter zu wechseln etc. Es ist nicht so, dass die Pumpe alles selber macht. Manch einer erwartet aber genau das und ist dann enttäuscht, wenn er erfährt, dass er etwa kalibrieren, KH berechnen und Korrekturboli abgeben muss.

Marianne Finke und Teilnehmerin Annie Heger am Handy
Quelle: Medtronic

Andreas: Das System drängt den Human Factor zurück. Das heißt, man kann ja auch bei einer nicht-optimalen Therapiefestlegung viel schaffen, wenn man sich ständig um den BZ kümmert – Boli geben, Glukosekurven auswerten usw. Der Patient muss eine Vielzahl von diabetesbedingten Entscheidungen am Tag treffen und die MiniMed 670G entlastet ihn in seinen Entscheidungen und Tätigkeiten, um gute Werte zu erhalten.

Aktuell fordert einen die MiniMed 670G noch auf, Korrekturboli selbst abzugeben. Wann wird es die MiniMed 680G geben, die diese Funktion automatisiert bieten soll?

Andreas: Aktuell läuft eine europaweite randomisiert-kontrollierte Studie dazu an, die Daten werden wir nicht vor Herbst nächsten Jahres haben. Aussagen über die Zulassung sind schwierig, auch, da sich die Vorgaben für die CE-Kennzeichnung ab Mai 2020 ändern. Vielleicht klappt es Ende 2021, Anfang 2022, aber das haben wir als Firma aufgrund der Regulatorien auch nur bedingt in der Hand.

Auch sonst denkt ihr in der Entwicklungsabteilung ja schon weiter. Wann wird es das volle AID-System (Closed Loop) geben, was ist mit Schnittstellen zu anderen Systemen und einer Patchpumpen-Version?

Andreas: Schwer zu sagen, weil das immer von den Studienergebnissen und der Zulassung abhängt – aber der volle AID könnte 2023 kommen. Offenen Systemen verschließen wir uns generell nicht, aber wir sind nicht diejenigen, die nach Interoperabilität schreien, denn wir haben beides, Pumpe und Sensor – und nur unser Sensor Guardian 3 ist zugelassen für die 670G. Der Patientenwunsch nach einem Baukastensystem ist auch für die regulatorische Seite komplex. Weitere Entwicklungen wie eine Patchpumpe, in der alles integriert ist und in die auch personalisierte Daten der Patienten einfließen, kommen vielleicht ab 2024. Zudem werden künftig voraussichtlich auch andere, nicht-glukozentrische Parameter einfließen, wie die Herzrate, die Hautfeuchtigkeit usw.

In näherer Zukunft scheint die MiniMed 770G zu liegen – mit Bluetooth-Funktion, dank der man die Daten z.B. auf eine App spiegeln könnte …

Andreas: … richtig. Mit Bluetooth können etwa Eltern über eine App als Follower immer über den Stoffwechsel des Kindes informiert sein. Aber Achtung: Man muss immer einen Kompromiss zwischen Offenheit und Datenschutz finden. Es gibt Nachrichten, dass Pumpen gehackt werden – und Bluetooth macht alles noch offener, sodass auch Regulierungsbehörden künftig genauer hinschauen müssen.

Aktuell muss man den Sensor mindestens zweimal am Tag kalibrieren. Wird der Kalibrierungsaufwand irgendwann geringer?

Andreas: Kalibrierungen für CGM-Systeme, die den Patienten nur in seiner Therapie unterstützen, sind das eine. Aber bei der MiniMed 670G steuert der Sensor die Insulinabgabe, dafür brauchen wir eine entsprechende Unterstützung und Absicherung – die Kalibrierungsfreiheit von CGM-Systemen für AID-Systeme steht daher aktuell nicht auf unserer Tagesordnung. Wichtiger ist die größtmögliche Sicherheit bei der Regulierung der Insulinabgabe.

Dr. Andreas Thomas
Quelle: Medtronic

Aller Anfang ist schwer – welche Erfahrungen hast du persönlich mit der MiniMed 670G gemacht, Marianne?

Marianne: Ich nutze das System seit Mai. Es ist ein ganz anderes Konzept als bisher, als man mit einer fest programmierten Basalrate versucht hat, die Glukose im Zielbereich zu halten. Die MiniMed 670G dreht die Therapie um: Das Glukoseziel 120 mg/dl (6,7 mmol/l) wird festgezurrt und die basale Insulinabgabe variiert. Das muss man erstmal akzeptieren und sein Diabetesmanagement etwas anpassen. Anfangs können die Werte vielleicht noch etwas höher sein und das ist frustrierend, aber wenn man ein paar neue Dinge in der technischen Anwendung lernt und an ein paar Stellschrauben dreht, konkret KH-Faktoren, KH-Berechnung und die Insulinwirkungsdauer, dann kann einen das System extrem im Alltag unterstützen, weil Gedanken wie „Habe ich meine Basalrate angepasst?“, „Brauche ich eine temporäre Änderung der Basalrate?“ oder „Wann mache ich Sport?“ oder „Was mache ich bei fiebrigen Erkrankungen?“ entfallen. Was also auf den ersten Blick als Einschränkung wirken mag – ein festes Glukoseziel, nur ein temporär höheres Glukoseziel als Sportoption etc. – wird zum Vorteil: Für mich ist die MiniMed 670G eine extreme Entlastung. So kompliziert vieles in der Theorie klingen mag, so einfach wird es nachher in der Anwendung, wenn man sich darauf einlässt.


Hier findet ihr:

MiniMed 670G: Kontrolle abgeben – Fluch oder Segen? (1/3)

MiniMed 670G: Kontrolle abgeben – Fluch oder Segen? (2/3)

2 Kommentare zu “MiniMed 670G: Kontrolle abgeben – Fluch oder Segen? (3/3)

  1. Schöne Worte des Herstellers – die Realität sieht anders aus. Medtronic müsste erst mal den Sensor in den Griff bekommen, um den Alarmterror zu reduzieren. Und sie sollten dem Anwender mehr Kompetenz zutrauen mit Freigabe wesentlicher Parameter – ggf. mehrstufig nach einer “idiotensicheren Startversion” und dem erfolgreichen Absolvieren von Lernzielen. Es ist ja wohl nicht im Sinne des Erfinders, dass der Großteil der Nutzer den Automodus mit Fake-Mahlzeiten und einer Insulinwirkzeit von 2 Stunden überlisten muss. Dennoch sind die “guten Werte”, die der Automodus erzielt, für einige eine Verschlechterung!

    1. Ich stimme voll und ganz zu. Umd dann lobt man sich immer mit der verbesserten TIR der Patienten. Selbstverständlich ist die Zeit im Zielbereich länger – wenn man die Sensorglucose zugrunde legt. Denn die Sensorglucose ist immer 10 – 20 Prozent niedriger als der Blutzucker.
      Um dies zu umgehen, muss man mit entsprechend höheren Werten kalibrieren, nur so stimmt die Sensorglucose halbwegs.
      D.h. um den Auto-Modus sinnvoll nutzen zu können, ist auf der anderen Seite viel manueller Aufwand erforderlich und zwar Aufwand, für den niemand eine Haftung übernimmt.

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