„Ich will den Diabetes beherrschen, nicht er mich“ – 51 Jahre Leben mit Typ-1-Diabetes

Nachdem Ina bereits mit Johann Kimmerle gesprochen hatte, folgte für den 71-Jährigen noch ein weiteres Gepräch mit Michi. Und auch er möchte seine Gedanken dazu teilen.

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Wie wird mein Leben wohl in 20, 30, 40, 50 oder mehr Jahren aussehen? Was hält die Zukunft für mich bereit, was in der Gegenwart noch Träumerei ist und in der Vergangenheit gar als unmöglich galt? Diese Fragen stellen sich bestimmt die meisten, wenn nicht jeder von uns zu gewissen Zeitpunkten unseres Lebens.

Fragen, die Neugierde auslösen, uns ins Grübeln bringen und auch mit Ängsten einhergehen.

Als Mensch, dessen tägliche Realität darin besteht, die eigenen Blutzuckerwerte im Auge zu behalten, und der aktiv daran beteiligt ist, den körpereigenen Insulinbedarf zu managen, sind in die Zukunft gerichtete Fragen nicht selten auch an den Typ-1-Diabetes gekoppelt. Ergibt schließlich Sinn, denn auch 2020 gelten Menschen mit Typ-1-Diabetes immer noch als chronisch krank, was per definitionem „beständig“ oder mindestens „lange andauernd“ bedeutet.

Michi an der Saarschleife / Quelle: Michi Krauser

Auch wenn immer mehr vielversprechende technologische Fortschritte das Diabetes-Management erleichtern und neue Forschungen immer häufiger Anlass zur Freude geben, fällt eine Heilung des Diabetes für mich persönlich immer noch in die Kategorie der Träumerei… Naja, im heutigen Beitrag soll es gar nicht zwangsläufig um die Zukunft des Diabetes gehen.

Wieso teile ich also diese Gedanken mit euch? Nun ja, im Rahmen unseres Monatsthemas „Älter werden mit Diabetes“ hatte ich das Vergnügen, mit jemandem zu sprechen, dessen Diabetesdiagnose im Jahre 1969 noch unter einem ganz anderen Stern stand.

Diabetes-Zeitreise in die 60er Jahre

Johann Kimmerle ist 71 Jahre alt. Seit 51 Jahren lebt er bereits mit Typ-1-Diabetes. Nach einem Autounfall, mit anschließendem Oberschenkelbruch, bekam er im November 1969 erst auf Nachfrage mitgeteilt, dass bei ihm ein manifester Typ-1-Diabetes festgestellt wurde.

„Ich war damals überrascht, dass mein Zimmergenosse keine Thrombose-Spritzen mehr bekam, ich jedoch noch weitergespritzt wurde. Auf Nachfrage bei der Schwester verwies diese mich an den behandelnden Arzt, welcher mir dann mitteilte: ‚Wir haben bei Ihnen festgestellt, dass Sie Zucker haben, und mit der Spritze werden Sie bis ans Ende Ihres Lebens leben müssen.‘“

So „einfühlsam“ wurde man also Ende der 60er Jahre noch diagnostiziert. Diabetes-Schulungen? Damals Fehlanzeige! Stattdessen gab es nach achtwöchigem Krankenhausaufenthalt eine Broschüre sowie eine Glasspritze, „die jeden zweiten Tag ausgekocht werden sollte“, und einen Verweis an den Hausarzt, der damals alle zwei bis drei Wochen den Blutzuckerwert feststellte und darauf basierend Handlungsempfehlungen gab.

Bis heute ärgert es Herrn Kimmerle, dass er damals so alleine im Regen stehen gelassen wurde, denn der, wie er sagt, „diabetische gordische Knoten“ platzte bei ihm erst während eines Aufenthalts in der Diabetes-Klinik Bad Mergentheim 1984. Richtig gehört: 15 Jahre nach der Diagnose bekam Herr Kimmerle seine erste richtige Schulung, durch die er anfing, seinen Diabetes richtig zu verstehen.

Kein Wunder also, dass er durch die wenigen zur Verfügung stehenden Informationen und die Aussagen der Ärzte damals davon ausging, aufgrund des Diabetes ein verkürztes Leben vor sich zu haben, das schon mit 50 Jahren zu Ende sein könnte. Sehr düstere Aussichten, doch so sah die Gedankenwelt bei vielen neudiagnostizierten Typ-1ern damals aus. Eine sehr ungewisse Zukunft…

Ein Postbeamter mit „Bubenträumen“

Ja, die Diagnose kam damals wie heute als großer Schock, doch deswegen die Flinte ins Korn zu werfen, kam für Herrn Kimmerle nie in Frage. Er schlug eine Karriere bei der Post ein. Und nachdem ihm der Postführerschein entzogen wurde, weil „Diabetiker nicht dafür geeignet waren“, folgten einige Jahre als Briefträger. „Mein persönliches Highlight“, wie er berichtet. Denn im Zustelldienst lernte er stets viele Menschen kennen und das Ausmaß an Bewegung tat ihm und seinem Diabetes sehr gut. Mit Unterstützung seines damaligen Arztes schaffte er es dann auch nach 1 1/2 Jahren Kampf in den mittleren Dienst und verbrachte seine letzten Jahre bei der Post in der Hauptverwaltung in Kempten.

Kämpfen konnte Herr Kimmerle jedoch nicht nur, wenn es darum ging, auf der Arbeit voranzukommen, sondern auch auf dem Fahrrad. 18 Jahre lang fuhr er leidenschaftlich Rad und die Strecken hatten es dabei in sich. Nicht selten wurden dabei auch mal Distanzen über 100 km am Tag überschritten. Die vielen Jahre auf dem Fahrrad halfen ihm dabei, seinen Körper und den Diabetes besser zu verstehen, und er teilte seine Erfahrungen gerne mit anderen. Lediglich ein Mal in 18 Jahren schätzte er die Belastung falsch ein, sodass ihm sein Sohn bei Ankunft zu Hause mit einer Flasche Cola aushelfen musste, weil er selbst nicht mehr die Kraft dazu hatte.

„Ich habe alles mitbekommen, konnte nur nicht mehr stehen“, lacht er, als er sich daran erinnert.

Herr Kimmerle wäre bestimmt noch einige weitere Jahre Fahrrad gefahren, wenn er nicht von seinen Augen gebremst worden wäre. Während einer seiner Fahrten wurde es plötzlich dunkel und verschwommen vor seinen Augen. Grund dafür waren geplatzte Äderchen, die dazu führten, dass seine Sicht eingeschränkt wurde.

„Plötzlich war alles dunkel und ich habe alles nur noch schemenhaft gesehen. (…) Das war der größte Schock in meinem Diabetiker-Leben, weil ich dachte, ich wäre blind.“

Quelle: Johann Kimmerle

Glücklicherweise war dem jedoch nicht so. Nach einigen Monaten des Wartens und einer Laserbehandlung der Augen kehrte die Sehkraft wieder zurück und auch, wenn er seitdem etwas eingeschränkt ist, freut er sich, dass es seit diesem Ereignis vor 20 Jahren keine weiteren Vorfälle mehr gab. Ähnlich geht es seinem Herzen. Ein Stent musste ihm gesetzt werden, aber auch hier hat er seitdem keine Beschwerden mehr.

Man kann also festhalten, dass Herr Kimmerle so einiges mit seinem Diabetes erlebt hat. Doch für „Bubenträume“ ist es nie zu spät! Bubenträume? Das waren für ihn die Träume und Leidenschaften aus seiner Kindheit. Insbesondere zwei Sachen: Pferde und Musik.
Mit 51 Jahren entschied er sich noch dazu, ein Pferdegespann zu kaufen und sich tagtäglich um die Tiere 19 Jahre lang zu kümmern. Gemeinsam mit seiner Partnerin fuhren sie zu Turnieren bis nach Straßburg und Heilbronn und nahmen an acht bis zwölf Turnieren pro Jahr teil. Die Bilanz: 11 Siege und 53 Mal unter den ersten fünf!
Nun fehlte ihm also nur noch die Musik. Und diesem Hobby kommt er nun seit 4 Jahren mit seiner Harmonika nach. Es ist also nie zu spät, Bubenträume wahr werden zu lassen!

Zielflagge in Sicht?

Mein Interview per Telefon mit Herrn Johann Kimmerle ging über eine Stunde und hätte eventuell gar nicht stattgefunden. Denn auch Ina hat mit ihm gesprochen. Ihren Beitrag findet ihr hier.

Und wisst ihr was: Gott sei Dank schleichen sich solche Dinge manchmal ein, denn ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, von ihm aus erster Hand zu hören, was er denn alles erlebt hat.

Herrn Kimmerles mutmachende und schwungvolle Herangehensweise ans Leben hört man ihm einfach an. Für ihn war immer klar, dass es nur eine Richtung geben kann und zwar die nach vorne. Manchmal, so sagt er, habe ihn der Diabetes in der Vergangenheit sogar angestachelt, gewisse Ziele zu erreichen. Frei nach dem Motto: Jetzt erst recht! Und genau deswegen war es ihm wichtig, an diesem Interview teilzunehmen. Um seine Geschichte zu teilen und zu zeigen, was Leben mit Typ-1-Diabetes alles bedeutet.

Als sich Herr Kimmerle zum Zeitpunkt seiner Diagnose Gedanken um seine Zukunft gemacht hat, war er sich nicht sicher, ob er älter als 50 Jahre werden wird. Heute ist er 71 und sagt: „Ich habe die Zielflagge noch nicht gesehen, deswegen laufe ich weiter.“


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